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Ich gebe kein Interview

Ein Gespräch mit Deidre Bair, der Biographin von Samuel Beckett und Simone de Beauvoir  ■ Von Jörg P. Goebeler

taz: Was ist eine feministische Biographie?

Deidre Bair: Feministische Biographik untersucht das Leben von Frauen in anderer Weise und mit anderen Methoden als den bisherigen. Wenn man die Biographien sogenannter großer Männer betrachtet, dann stellt man fest, daß sie sich fast ausschließlich mit dem öffentlichen Leben befassen. Dagegen stellt man Frauen ganz andere Fragen. Intime oder indiskrete wie die nach Menstruation und Wechseljahren, die Aufschluß darüber geben sollen, wie diese Faktoren Leben und Arbeit beeinflußt haben, oder Fragen nach Verhältnissen zu Männern und Frauen, die Aufschluß darüber gegen sollen, wie solche Beziehungen die Sicht der Dinge, der kreativen Arbeit gefärbt haben. Frauen stellt man also ganz andere Fragen als Männern. Allerdings mache ich — ich nehme in New York regelmäßig an Biographie-Seminaren teil, bei denen renommierte Leute, Männer wie Frauen, ihre Ansätze, ihre Arbeit diskutieren — in der letzten Zeit die Erfahrung, daß Männer auf mich zukommen (das sind wohlgemerkt Männer, die Pulitzer-Preise bekommen haben oder einen National Book Award) und mir sagen: Ich wünschte, ich hätte bei meiner Biographie über diesen Mann den feministischen Ansatz stärker berücksichtigt! Oder sie sagen: Ich schreibe gerade über den und den — Politiker, Schriftsteller, egal — und werde unbedingt Methoden feministischer Biographik bei meiner Arbeit über diesen Mann anwenden, weil ich das für wichtig halte. Von daher könnte man also sagen, daß der feministische Ansatz außerordentlich fruchtbar ist, weil wir lernen, nach allen Lebensumständen und -aspekten zu fragen, nicht nur nach den äußerlichen, öffentlichen.

Sie schreiben im Vorwort Ihrer Biographie Simone de Beauvoirs darüber, daß Beauvoir Ihnen gegenüber eine kompromißlose Aufrichtigkeit an den Tag gelegt hätte. Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Vorweg möchte ich das bekräftigen: Ja, sie war kompromißlos ehrlich, aber sie ließ zugleich manches im unklaren. Das heißt: Beim Verfassen ihrer Memoiren konnte es vorkommen, daß sie durchaus über das Thema A hätte schreiben wollen, da das jedoch unweigerlich zum Thema B geführt hätte — was immer noch keinerlei Schwierigkeiten bereitet hätte — und in der Folge zum Thema C, wo es dann schon heikler geworden wäre, weil C wiederum das Thema D nach sich gezogen hätte, über das sie sich nicht auslassen wollte, weil es ihr selbst oder aber für andere unangenehm geworden wäre, wurde letztlich keines der Themen A, B, C oder D zur Sprache gebracht. Und ich wiederum hielt es für eine der Aufgaben meiner biographischen Arbeit, über genau die Dinge zu schreiben, die sie unterschlagen hatte. Trotzdem muß man ihr zugute halten, daß sie, wenn sie über etwas geschrieben hat — sei es eine Freundschaft, eine Beziehung, ihren Part bei politischen Aktivitäten—, es mit kompromißloser Aufrichtigkeit getan hat. Ihre Darstellungen waren dann, wie ich feststellen konnte, verläßlich.

Sie schreiben in Ihrem Buch, daß Beauvoir nur ein einziges Mal einen Kraftausdruck — das war in diesem Fall „bumsen“ — gebraucht hätte. Ansonsten schreibt sie offensichtlich nur, sagen wir mal, der Beauvoir-Erziehung angemessen über Sexualität.

Hier sollte ich vielleicht noch mal auf die Biographie verweisen. Es gibt im ersten Teil fünf ausführliche Kapitel zu Beauvoirs früher Kindheit und Adoleszenz. Als meine Lektorin diese Kapitel las, meinte sie zunächst, sie seien viel zu lang und müßten gekürzt werden. Ich habe ihr gesagt: Nein, nein, lesen Sie erst einmal weiter, und dann werden Sie verstehen, warum diese Ausführlichkeit notwendig ist. Und bei der Lektüre der Beschreibung des Erwachsenenlebens Beauvoirs fiel der Lektorin genau die Widersprüchlichkeit in der Haltung Beauvoirs gegenüber der Sexualität auf, und sie entsann sich der fünf Kapitel und mußte mir Recht geben, wie wichtig es fürs Verständnis ist, die frühen Jahre zu kennen, denn Simone de Beauvoir war in der Tat eine wohlerzogene „Tochter aus gutem Hause“. Sie hat die Überzeugungen der oberen Schichten, aus denen sie stammte, und deren Einstellung zur Sexualität nie abgelegt. Sie haben ihr gesamtes Leben geprägt. Die Widersprüche im Leben dieser Frau bleiben daher für mich — ebenso wie vermutlich für meine Leser — ein Phänomen: daß sie sich einerseits über Normen und Werte ihrer Schicht und Familie hinwegsetzen konnte, um mit Sartre zu leben und damit — wie eine ihrer Kusinen es sagte — zur „bekanntesten gefallenen Frau in ganz Frankreich“ zu werden, und daß andererseits selbst bei der 84jährigen, die vor einigen Jahren davon sprach, noch der alte Kodex fortlebte. Von daher aber erklären oder erhellen die Umstände des familiären Hintergrunds und der Erziehung Simone de Beauvoirs einiges, aber sie können es nicht restlos: Es bleiben Widersprüche bestehen, die sich nicht auflösen, die sich auch für mich nicht ganz auflösen.

In all den Jahren, wo Sie mit Frau Beauvoir gesprochen haben, gab es nur ein einziges Mal eine Situation der privaten Nähe, wo die Beauvoir Fragen gestellt hat; ansonsten fehlte jede private Beziehung. Hat Sie das nicht ein wenig enttäuscht?

Das Verhältnis zwischen mir und Simone de Beauvoir läßt sich besser erklären, wenn ich mit dem Verhältnis zwischen mir und Samuel Beckett beginne, das immer sehr förmlich geblieben ist — Mr. Beckett, Mrs. Bair. Wir aßen gelegentlich eine Kleinigkeit zu Abend miteinander oder nachmittags zum Tee, verhielten uns aber stets reserviert. Damals habe ich das bedauert, hätte mir gewünscht, wir könnten Freunde werden. Bis ich dann mit der Niederschrift der Biographie begann. Da war ich unendlich dankbar für die Objektivität, die mir diese Distanz und die Förmlichkeit erlaubten. Als ich dagegen Simone de Beauvoir das erste Mal begegnete, redete sie mich gleich beim zweiten Satz, glaube ich, mit Vornamen an, und dann hieß es sehr schnell: „Komm, wir sollten uns mit diesen Feministinnen auf einen Drink treffen, und dann laß uns mit einem Freund von mir essen gehen.“ Wir tauschten allerlei Informationen und Neuigkeiten über gemeinsame Bekannte aus — und ich war diejenige, der das nicht ganz geheuer war, ich war diejenige, die sich reserviert gab, ich war die, die eher sagte: „Ach nein, tut mir leid, ich kann nicht zum Drink oder zum Essen mitgehen.“ Andererseits war ich gern bereit, sie zu einer feministischen Tagung beispielsweise zu begleiten. Ich war diejenige, die darum bemüht war, eine gewisse Distanz zu wahren, mir die Objektivität zu wahren, eben weil ich bei der ersten Biographie die Erfahrung gemacht hatte, wie wichtig das war, und ich hielt sie in diesem zweiten Fall, für diese Biographie noch für weit wichtiger. Andererseits hat sie mich nur einmal über meine persönlichen Umstände befragt — ob ich verheiratet sei, ob ich Kinder hätte, wo ich lebte, so in der Art —, und sobald das geklärt war, spielte es keine Rolle mehr. Eine Rolle spielte, was ich zu feministischen Fragen zu sagen hatte, was ich von der amerikanischen Politik hielt, was ich von einem bestimmten Buch, Film oder einer bestimmten Oper hielt. Das gehörte einfach zum Wesen dieser Frau, so waren ihre Interessen gelagert. Sie hat sich nicht so sehr für das Privatleben der Leute interessiert, sie hat sich für ihre Gedanken und Meinungen interessiert.

Es heißt im Vorwort zur deutschen Ausgabe des Beckett-Buches, daß Beckett Ihnen ein sehr großes Vertrauen entgegengebracht hat. Worin begründet sich dieses Vertrauen?

Das läßt sich schwer sagen. Von anderen habe ich gehört — zwei oder drei Leute umschrieben es mit den gleichen Worten —, daß Beckett mich als eine Frau erlebte, die „mit beiden Beinen auf der Erde steht“, weiß der Himmel wieso. Jedenfalls hatte ich ihn zum einen ganz direkt und ganz offen um die Erlaubnis gebeten, eine Biographie schreiben zu dürfen, und zum anderen habe ich während der gesamten Zeit sorgsam darauf geachtet, daß er zu jedem Zeitpunkt darüber informiert war, mit wem ich gesprochen hatte und was ich zu schreiben beabsichtigte. Ich gehe davon aus, daß sein Vertrauen durch diese Dinge und mit der Zeit gewachsen ist.

Die Arbeit mit Beckett war besonders kompliziert, weil er Ihnen kein Tonband und auch keine schriftlichen Aufzeichnungen gestattete. Warum?

Beckett hat niemals Tonbandaufzeichnungen seiner Stimme erlaubt, weil er eine pathologische Angst davor hatte, daß seine Stimme nach seinem Tode weiterleben könnte. Das gleiche galt für bewegte Bilder — also Film. Er konnte selbst Fotos kaum ertragen und ließ sich nur unter äußerstem Druck zu Aufnahmen überreden — für die Theaterarbeit, beim Theater brauchte man die Fotos des Bühnenautors. Und auf diesen Standfotos schaut Beckett tatsächlich sehr verdrossen drein, steht mit finsterer Miene herum, als wollte er sagen: „Es paßt mir zwar nicht, aber ich muß es wohl über mich ergehen lassen.“ Soviel also zu seiner Abneigung gegen Aufzeichnungen seiner Stimme und gegen Bilder. Weshalb er nicht einmal Bleistift und Papier dulden mochte, verstehe ich bis heute nicht. Es war am ehesten so, als wollte er sagen: „Ich gebe ja eigentlich kein Interview; wir unterhalten uns lediglich. Ich erzähle Ihnen, was Sie wissen wollen, aber solange Sie weder Stift noch Papier haben, ist das kein Interview.“ Ich halte es für einen Ausdruck seiner Persönlichkeit, seiner Sicht der Dinge. Und da mir sehr viel an diesem Buch lag, da ich fand, diese Biographie sei unverzichtbar wichtig für die Beckett-Forschung, für Schauspieler und Regisseure seiner Stücke, habe ich mich auf seine Bedingungen eingelassen. Wir haben alle unsere Macken, und das war eben die seine.

Im deutschen Vorwort zu Beckett gibt es ein Mißverständnis. Auf der einen Buchseite heißt es, daß Beckett Sie mal empfangen würde, wenn Sie irgendwann in Paris sein sollten, und drei Seiten später halten Sie ihm quasi vor, daß er Sie umsonst nach Paris bestellt habe.

Ich denke, ich weiß, was Sie meinen. Er hatte mich aufgefordert, also habe ich ihm geschrieben und das Datum meiner Ankunft mitgeteilt, als ich aber ankam, war er nicht in der Stadt — meinten Sie diese Situation? Er war ernstlich krank, hatte eine halbe Lungenentzündung und war auf Anraten seines Arztes zur Erholung nach Marokko oder Malta gereist, in die Wärme. Ich dachte natürlich, er geht mir aus dem Weg. Es stimmt, ich habe zwar, meine ich, darüber nicht geschrieben, aber so war es. Also hinterließ ich ihm eine Nachricht und teilte mit, ich sei noch etwa zehn Tage lang in Paris, aber da er mich ja offenbar nicht sehen wolle, was ich bedauerte... Er kehrte erst zurück, nachdem ich bereits nach Irland abgereist war, und da hat er mich in Irland ausfindig machen lassen und hat mich gebeten, noch einmal nach Paris zu kommen, er müsse sich entschuldigen, er sei krank gewesen und hätte verreisen müssen.

Ich hatte Beckett in einem Brief um die Erlaubnis gebeten, eine Biographie zu schreiben, und hatte erläutert, weshalb ein solches Buch zu dem Zeitpunkt meiner Meinung nach notwendig wäre. Ich fand, daß die Forschung in eine Sackgasse geraten war, daß wir Literaturwissenschaftler und Universitätsprofessoren uns nur noch wiederholten. Meiner Meinung nach gab es aber noch sehr viel mehr zu Beckett zu sagen. Ich hatte mich sehr stark mit Irland und der irischen Literatur beschäftigt. Ursprünglich galt mein Interesse Joyce. Von Joyce gelangte ich zu Beckett und wollte über ihn schreiben, weil ich fand, daß sein Werk in manchem sehr „irisch“ war, und das hielt ich für bedeutsam für die Forschung und war deshalb von der Notwendigkeit einer Biographie überzeugt. Das alles habe ich Beckett brieflich dargelegt, und er schrieb mir zur Antwort — ich habe mir den Wortlaut gemerkt, weil ich so oft gefragt worden bin, was er gesagt hat — : „Sehr geehrte Mrs. Bair, mein Leben ist langweilig und nicht von Interesse. Dabei sollte man es lieber belassen. Die Professoren wissen mehr darüber als ich selbst.“ Und dann, ganz unten, handschriftlich und anscheinend hastig dazugekritzelt: „Ich stelle Ihnen gern biographische Informationen zur Verfügung. Sollten Sie nach Paris kommen (wollen), würde ich Sie empfangen.“ Natürlich schrieb ich ihm daraufhin: „Ja, gern. Ich komme gern nach Paris, und ich würde Sie sehr gerne sprechen.“ Er war einverstanden, also bin ich nach Paris gereist. Hier knüpft dann die Geschichte an, die ich Ihnen eingangs erzählte.

Welche Konsequenzen hat für Sie die jahrelange Beschäftigung mit einzelnen Personen — zwei haben Sie bisher intensiv kennengelernt? Ist das nicht sehr langweilig, sieben Jahre mit einer Person zu verbringen?

An einer Biographie schreibt man ja eine halbe Ewigkeit, und eine Möglichkeit zu verhindern, daß man dabei durchdreht, ist es, mehrgleisig zu fahren. Ich bin sowohl Journalistin als auch Akademikerin. Ich war jahrelang Dozentin an der Universität. Ich schreibe alle möglichen verschiedenen Sachen: Reisereportagen, Artikel, Interviews, wissenschaftliche Aufsätze zu meinem eigenen Ansatz — und das tue ich auch, wenn ich an einer Biographie sitze. Ich bin der Meinung, das ist einer der Gründe dafür, weshalb ich überhaupt über eine so lange Zeit das Interesse aufrechterhalten kann. Doch in erster Linie untersuche ich eben gerne die Kulturgeschichte unserer Zeit anhand einzelner Lebenswege, indem ich also über das Leben von jemandem schreibe, der oder die für unsere Zeit von Bedeutung ist. Wenn man die beiden Biographien nimmt, die ich geschrieben habe — ich denke, daß kaum jemand bestreiten würde, daß sich das Drama seit Warten auf Godot verändert hat, also wegen Beckett, und daß sich im Leben von Frauen weltweit durch den Einfluß Simone de Beauvoirs und des Anderen Geschlechts etwas geändert hat. Es handelt sich um zwei Menschen, die von großer Bedeutung und deren Einfluß kolossal waren. Ich denke, das Verständnis dieser Leben trägt zum besseren Verständnis unseres eigenen bei. Aber ich habe nicht den leisesten Wunsch, in die Haut derer zu schlüpfen, über die ich schreibe, es reizt mich nicht, deren Leben zu leben. Dazu ist mein eigenes viel zu aufregend!

Was kommt als nächstes?

Zum einen eine Biographie Anais Nins, von der es ja sieben veröffentlichte Tagebücher gibt — also wieder eine Art Simone de Beauvoir —, und zum anderen die Lebensgeschichte der französischen Schriftstellerin Colette. Colette ist in den Vereinigten Staaten oder überhaupt außerhalb Frankreichs nur sehr wenig bekannt. Man scheint der Meinung zu sein, sie sei so „französisch“, daß ihre Bücher für Nicht-Franzosen uninteressant sind. Ich habe aber neues und aufregendes Material entdeckt, von dem ich glaube, daß es das Interesse an ihr auch im Ausland verstärken wird.

Glauben Sie, daß es Gemeinsamkeiten gibt zwischen Beckett, Beauvoir, Colette und Anais Nin?

Möglich. Aber ich stelle da ungern Vermutungen an, denn wenn ich eines durch das Verfassen von Biographien gelernt habe, dann das, daß kein einzelnes Leben jemals Maßstab eines anderen sein kann. Jedes Leben ist grundverschieden. So wie wir alle individuelle genetische Anlagen haben, ist jede Person, ist jedes Individuum so einzig, daß es ein furchtbarer Fehler wäre, wollte ich oder überhaupt ein Biograph ein Leben auf der Grundlage eines anderen interpretieren. Ich würde also sagen: Sie als Leser mögen vielleicht Ähnlichkeiten und Wiederholungsmuster in meiner Arbeit finden; ich als Autorin ziele beim Schreiben in keiner Weise darauf ab.

Deidre Bair: Samuel Beckett. Eine Biographie, aus dem Amerikanischen von Werner Peterich, Kellner Verlag, 960 S., geb., 86 DM

Simone de Beauvoir. Eine Biographie, aus dem Amerikanischen von Sabine Lohmann und Uda Strätling, Knaus Verlag, 960 S., geb., 58 DM

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