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Von Heiratsschwindel und Scheinfirmen

Freizügigkeit ist in Osteuropa noch ein Fremdwort/ Zur Grenzüberschreitung sind Tricks und Durchhaltevermögen nötig  ■ Aus Prag Sabine Herre

Der Antrag war eindeutig. 150.000 Kronen (zirka 8.900 DM) bot die Russin Tatjana für eine möglichst schnelle Heirat mit einem Bürger der Tschechoslowakei. Sollte diese nicht zustandekommen, müßte sie zusammen mit den letzten noch in der Tschechoslowakei stationierten Truppen der Roten Armee in ihre Heimat zurückkehren. Vor dieser Rückkehr fürchtet sich nicht nur sie allein, auch viele Soldaten blicken ihr mit Bangen entgegen.

Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskrise, Wohnungsmisere und eine ungewisse Zukunft warten dort auf sie, deshalb wollen sie lieber in der Tschechoslowakei bleiben, obwohl ihnen die dortige Bevölkerung bisher überwiegend mit Ablehnung und Furcht begegnet ist. Sie wollen hier Arbeit finden und sich daher auf die unterschiedlichste Art und Weise eine Aufenthaltsgenehmigung erkaufen. Und während so die Frauen ihre Haut zu Markte tragen, versuchen die Männer zusammen mit einheimischen Schwarzhändlern Aktiengesellschaften zu gründen, um sich so eine Rechtsgrundlage für ihr Bleiben zu verschaffen.

Eine Arbeitsgenehmigung als Arbeitnehmer bei einem tschechischen Unternehmen zu erhalten, ist so gut wie ausgeschlossen. Am 1. Februar 1991 trat in Böhmen und Mähren ein neues Beschäftigungsgesetz in Kraft, es bestimmt, daß eine Stelle bei gleicher Qualifikation der Bewerber an einen Bürger der CSFR vergeben werden muß. Nach Ansicht der Autoren des Gesetzes soll dieses nicht nur dazu dienen, die Arbeitslosigkeit in der CSFR zu senken, sondern zugleich auch ein Absinken des Lohnniveaus durch billige Arbeitskräfte aus dem Ausland zu verhindern. Doch nicht nur Polen, Balten und Rumänen, die sich derzeit vorrangig um eine Arbeitsstelle in der Tschechoslowakei bewerben, haben das Nachsehen. Viel schwerwiegender sind die Folgen der Einführung der Marktwirtschaft für diejenigen, die seit Jahren im Land leben und arbeiten.

Solange die sozialistische Planwirtschaft an Arbeitskräftemangel litt, warb sie für bei den Einheimischen unbliebte Tätigkeiten in den Ländern des RGW Arbeitskräfte an. Bereits vor zwanzig Jahren wurde ein erster Vertrag über die Entsendung von 30.000 „Gastarbeitern“ mit Vietnam abgeschlossen, ähnliche Abkommen mit Polen (4.000 bis 5.000), Ungarn (2.000) folgten. Wenngleich das Leben der zumeist in engen Wohnheimen und Ghettos zusammengepferchten AusländerInnen nicht einfach war, gab es doch immer eine Sicherheit: Das in der Tschechoslowakei verdiente Geld konnte zum Erwerb von Waren verwendet werden, die es in den Heimatländern der Angeworbenen nicht gab. Über die „asiatischen Schlitzaugen“, deren „höchstes Ziel der Erwerb eines Fahrrads“ war, wurden in Prag unzählige Witze gerissen. Das Ausmaß der Ausländerfeindlichkeit wurde jedoch erst nach der politischen Wende deutlich. Der erste Schritt der bisherigen Arbeitgeber bestand darin, die Verträge mit einem Angebot auf Entschädigung aufzulösen. Leider, so einer der zuständigen Beamten, vollziehe sich die Rückkehr aber sehr langsam, „uns stehen einfach nicht genügend Flugzeuge zur Verfügung, und auch wenn die Vietnamesen noch so klein sind, können die Sitzplätze doch nicht doppelt belegt werden.“

Außerhalb des Rahmens der offiziellen Verträge ist eine Übersiedlung von einem RGW-Land in ein anderes Land schwer möglich. Besonders die Bürger der Sowjetunion versuchen trotzdem immer wieder ihr Glück. Teilnehmer von Gruppenreisen benutzen diese als Absprungmöglichkeit; an den Unis von Moskau und Leningrad, wo viele Ausländer studieren, blüht der Heiratsmarkt. Der Preis für die Aufgabe der „sozialistischen Heimat“ ist beträchtlich. Nina, die vor fünfzehn Jahren den Tschechen Jaroslav heiratete, erzählt, daß ihr Vater seinen Arbeitsplatz in einer wichtigen Funktion verlor, der Bruder seinen Armeedienst in Sibirien ableisten mußte. Doch auch sie selbst hatte schwer für diese Ausreise zu kämpfen: Mehrmals versuchten die sowjetischen Behörden, sie davon zu überzeugen, daß sie und ihr Mann in der Tschechoslowakei keinen Arbeitsplatz finden würden. Für jede Reise in ihre Heimatstadt benötigte Nina, die ihre sowjetische Staatsbürgerschaft nie aufgegeben hat, eine Einladung von den Eltern. Für einen Besuch bei Freunden in anderen Städten der UdSSR sind spezielle Genehmigungen erforderlich. Abgeben mußte Nina außerdem eine politische Erklärung über ihre Einschätzung des Prager Frühlings, bei einer „falschen“ Antwort wäre ihr, so vermutet sie, die Ausreise verweigert worden. — Während die Sowjetunion in den vergangenen Jahrzehnten ihre Grenzen gegenüber dem eigenen Lager dichtmachte, droht diesen heute ihre Öffnung. In Polen und der CSFR wächst die Furcht, daß jene Sowjetbürger, die ihre Heimat in Richtung Westeuropa verlassen, womöglich in den Nachbarstaaten der Sowjetunion „hängenbleiben“. Wer Politiker fragt, wie sie die unvermeidlichen sozialen Probleme einer solchen Entwicklung zu lösen gedenken, erntet meist nur ein ratloses Schulterzucken. Geradezu begeistert berichten die Beamten dagegen von Verträgen, die in den letzten Monaten zwischen der Bundesrepublik und der CSFR abgeschlossen wurden. Sie ermöglichen drei- bis zwölfmonatige Arbeitsaufenthalte vor allem in den grenznahen Gebieten, tschechoslowakische Firmen können ihre Angestellte über Werkverträge an Betriebe in Deutschland vermitteln. Voraussetzung für eine solche Tätigkeit sind ausreichende Deutschkenntnisse. Der Antragsteller muß in einem Test nachweisen, daß er nicht nur höflich „Guten Tag“ sagen kann, sondern auch die Fachausdrücke seines Berufszweiges beherrscht. Die „Haupteinsatzgebiete“ der neuen Gastarbeiter werden die Wald- und Forstwirtschaft, das Bauwesen und das Gaststättengewerbe sein. Dabei übersteigt die Anzahl der Bewerber bei weitem diejenige der vorhandenen Arbeitsplätze. Denn selbst bei einem Stundenlohn von acht DM kann durch einen dreimonatigen Aufenthalt ebensoviel verdient werden wie in dem östlichen Nachbarland in einem ganzen Jahr.

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