Werkstatt des Surrealen

■ Max Ernst und René Magritte in der Galerie Brusberg

Eines Tages im Jahre 1919, als ich mich an einem Regentag in einer Stadt am Rhein befand, wurde ich von der Faszination erfaßt, die die Seiten eines Kataloges, in dem Gegenstände für anthropologische, mikroskopische, psychologische, mineralogische und paläontologische Demonstrationen abgebildet waren, auf meinen irritierten Blick ausübten. Ich fand dort so weit voneinander entfernte Figurenelemente vereint, daß die Absurdität dieser Ansammlung eine plötzliche Intensivierung der visionären Fähigkeiten in mir verursachte und eine halluzinierende Folge von widersprüchlichen Bildern hervorrief, doppelte, dreifache, vielfache Bilder, die sich mit der Eindringlichkeit und Schnelligkeit, die Liebeserinnerungen und Visionen des Halbschlafs eigen sind, übereinanderlagerten.«

Diese ekstatische Schilderung eines schockartigen Seherlebnisses veröffentlichte Max Ernst Mitte der dreißiger Jahre in dem Text Au-delà de la peinture, der in den Publikationen der Pariser Surrealisten erschien. Den Titel Jenseits der Malerei beansprucht nun die Galerie Brusberg für ihre Max-Ernst-Ausstellung im Jahr seines hundertsten Geburtstages, doppelsinnig damit einerseits die Beschränkung auf Papierarbeiten ankündigend und andererseits auf jenen Text verweisend, der das Zusammensehen des Disparaten als produktionsästhetischen Schlüssel nicht nur der Collagen von Max Ernst ausweist. Jenseits der Malerei begegnet der surreale Erfinder Max Ernst dem Inventar der Formen, die er zu neuen Bildern verdichtet. Zusammengestellt aus den Lagerbeständen der Galerie Brusberg, die Max Ernst schon seit 1969 vertritt und 1972 ein Werkverzeichnis herausgab, beginnt der Werkausschnitt der käuflichen Arbeiten mit der naiven Karikatur eines Schülerfestes von 1910 und endet mit einer Collage von 1974, in der Saturn über einer üppigen Stoffbordüre aufgeht. In den Frottagen, Collagen, Radierungen, Zeichnungen, Goauchen und Lithographien, die vielfach als Illustrationen zu literarischen Texten entstanden, ist der spielerische Reichtum der Techniken und die verwirrende Vielfalt und autonome Wirklichkeit der Motive gegenwärtig, die das Werk von Max Ernst prägen.

Gezeigt werden die zuerst 1919 in Köln veröffentlichten Lithographien der Mappe Fiat modes pereat ars. Gesichtslose Holzpuppen, die durch ihre harten Schlagschatten eine eigenartige Realität gewinnen, sind in perspektivisch verwirrende Räume, Modelle von Architektur und Maschinentechnik, wie eine Staffage gesetzt. Mathematische Formeln und Dada-Parolen schwirren dazwischen.

Frottagen von Blättern und Hölzern, 1925 entstanden, erweitern das Spiel mit der Gegenständlichkeit; konkrete Spuren einer dinghaften Existenz werden zum Verweis auf ein anderes. In den Lithographien beispielsweise, die Max Ernst 1939 zu einer Dichtung Jean Tardieus schuf, könnte der Faltenwurf der Kleider der vogelköpfigen Gestalten von einer Holzabreibung stammen. Nichts bleibt mit sich selbst identisch. Auf einer Zeichnung mit Frottage der fünfziger Jahre schieben sich Holzstrukturen wie geologische Verwerfungen ins Bild, einen schmalen freien Raum umfließend, in den ein kleines geschwänztes Dreieck vorstößt.

Die Kompositionen der Blätter der fünfziger Jahre folgen organischen Formen, suggerieren vergrößerte Einblicke in Zellen und molekulare Anordnungen. 1961 erstand eine Serie von Farbradierungen, in der winzige, krakelige Strichmännchen über einen gesprenkelten und von vibrierenden Linienbündeln zitternden Untergrund purzeln. Sie wirken, als habe sie der Künstler spontan aus dem Handgelenk geschüttelt; 1970 erhalten ähnliche Krikel, nun dicht in Blöcken in Bändern geordnet, plötzlich den ganz anderen Anschein einer schön geordneten Kalligraphie.

Verfolgt man die das Ungewohnte irritierend kombinierenden Arbeiten von Max Ernst aus der Dadazeit bis in die siebziger Jahre, springen die Konstanten seiner Methode und des Forminventars ins Auge. Nicht aus aktuellem, sondern aus vergessenen Bildmotiven der Kultur und funktionslosen Darstellungsformen der Wissenschaft montiert er seine Gebilde. Der Klassiker der Moderne stiftete dem Vormodernen einen Aufenthaltsort, der bis in unsere Gegenwart hineinreicht.

Die Max-Ernst-Graphiken werden zusammen mit einer kleinen traurigen Magritte-Ausstellung in der Galerie Brusberg präsentiert. Traurig ist die als Blick hinter den Spiegel betitelte Sammlung von Skizzen, Zeichnungen, Studien und Fotografien deshalb, weil sie so deutlich von der Plünderung eines Nachlasses kündet. Die letzten Blätter wurden von der Brüsseler Galerie Isy Brachot, die den Nachlaß von Magritte verwaltet, zusammengekratzt. Gerade das Abgerissene der Zettel rührt an, ihre Aufteilung in Eckchen für immer neue Versuche. Sie erlauben den Blick in die Werkstatt des Surrealen. Skizzen dokumentieren, daß dem von den Surrealisten als schöpferischen Mythos beschworenen Erlebnis der zufälligen Inspiration die Arbeit des Beobachten, Sammelns von Gesten und Formen, Proben der Komposition und Selektion vorausging. Perspektive, Proportionen und Schattenzonen, die den schweren Felsbrocken im Bild nachher magisch hochstemmen und schweben lassen, werden im Kleinen geprobt. Die grünen Äpfel, deren makellose Präsenz als gewaltige Weltkugel in Magrittes Bildern erschreckt, gehen Übungsblätter voller Äpfel voraus, die das Klischee der Titanengesten des Meistermalers sympathisch relativieren. Für eine Erforschung der Produktionsästhetik Magrittes sicher unersetzliches Material, haben nur wenige der Blätter die Ausstrahlung einer endgültigen Formulierung. Souverän in der Reduktion auf das Notwendigste erscheint nur eine kleine Aktzeichnung, in der drei offene Linien den linken Arm, Schulter und Taille eines Rückaktes andeuten. Katrin Bettina Müller

Max Ernst: Jenseits der Malerei , René Magritte: Der Blick hinter den Spiegel in der Galerie Brusberg Berlin, bis 17. August, Di.-Fr. 10-18.30, Sa. 10-14 Uhr