: Die meisten mochten sich nicht erinnern
Rita Süssmuth erinnerte in einer 15 minütigen Rede im Bundestag an den Angriffskrieg/ Kaum ein Parlamentarier erschien zum Gedenken an den 50. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjets ■ Aus Bonn Ferdos Forudastan
Nicht mehr als knapp 80 von 662 Abgeordneten saßen gestern morgen im Plenum des Bundestages, als Rita Süssmuth eine Rede anläßlich des 50. Jahrestages des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion hielt. Noch am Tag zuvor waren fast alle MandatsträgerInnen erschienen, um über den künftigen Sitz von Parlament und Regierung zu debattieren. Für das Gedenken an den 22.Juni 1941 fanden sich nur etwa vierzig SozialdemokratInnen, dreißig UnionistInnen, ein paar PDSler und einige Grüne um neun Uhr im Bonner Wasserwerk ein.
Knappe 15 Minuten kurz erinnerte Rita Süssmuth an den Überfall der Deutschen, der etwa 25 Millionen Sowjets das Leben gekostet hat. „Zur Wahrheit gehört“, bekannte die Parlamentspräsidentin, „daß der Krieg von Deutschlands Machthabern völkerrechtswidrig begonnen wurde.“ Und: “ Das Motiv war Angriff. Der Krieg war nicht als Eroberungs- sondern als Vernichtungskrieg geplant...“ Umfassend führte sie auch aus: Die Deutschen hätten nichts von dem Plan für einen solchen Krieg gewußt, auch in der Sowjetunion habe ein grausamer Diktator geherrscht, viele Menschen in Europa hätten das „menschenvernichtende Herrschaftsregime“ gefürchtet, daß 1917 in der Sowjetunion errichtet worden sei... Süssmuth bekundete „Trauer und Leid, das sowjetischen Völkern in deutschem Namen und von deutscher Hand zugefügt wurde“. Sie rief dazu auf, auch der „eigenen Toten“, des Verlustes der Ostgebiete und der Vertreibung Deutscher zu gedenken. Für die deutsch-sowjetische Zukunft verwies Süssmuth auf den Vertrag beider Staaten über „Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit“. Mit ihm sei ein neuer Anfang gemacht. Ihn gelte es, mit Leben zu erfüllen.
Bundespräsident Richard von Weizsäcker bekundete in einem Brief an Staatspräsident Michail Gorbatschow, fünfzig Jahre nach dem Angriffskrieg in dem „beide Völker einander fürchterliche Wunden geschlagen haben, die heute noch nicht verheilt sind“, müsse man den „in eine vertrauensvolle Zukunft“ finden. Er dankte Gorbatschow dafür, daß dessen Politik unter anderem die Wiedervereinigung ermöglicht habe. Als „Ausdruck einer ideologischen und machtpolitischen Verblendung“ für die das deutsche Volk auch selbst einen hohen Preis entrichtet habe, bezeichnete Bundeskanzler Helmut Kohl in einer Botschaft an Gorbatschow den Überfall. SPD-Chef Björn Engholm erklärte bei einer Kranzniederlegung, die Deutschen seien besonders verpflichtet, die Teilung Europas mit zu überwinden. Präziser drückten die Grünen sich aus: Die Deutschen, Verbrecher von 1939 und Besiegte von 1945, häuften auf den Weltmärkten ihren Reichtum an und lebten in Wohlstand, „während die Sieger von 1945 ... in Chaos und Massenarmut abgleiten“. Sie forderten deshalb eine „radikale Umorientierung deutscher Europapolitik“, die das Wohlstandsgefälle abbaue. Die PDS in Bonn beklagte erneut, daß man des Überfalls nicht mit einer Sondersitzung gedachte.
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