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L'Chaim liest: In Arkadien nicht geboren

■ Texte von jüdischen Lesben & Schwulen

Gojim, Nichtjuden, ordnen Juden assoziativ der Vergangenheit zu, denken an Anne Frank und Holocaust und vielleicht noch an Heinz Galinski und seine Mahnungen. Der Nazi-Terror hat es geschafft, jüdischer Kultur in Deutschland bis heute den Alltag zu rauben. Mit ein wenig Anstrengung erinnert man sich vielleicht noch an eine Synagoge oder TV-Bilder von langbärtigen Orthodoxen. Daß Juden aber auch ganz real, dazu ungläubig und in Jeans einfach über die Oranienstraße flanieren, scheint ebenso schwer vorstellbar zu sein, wie daß Juden homosexuell sind und offen dazu stehen.

In Berlin haben sich 15 lesbische und schwule JüdInnen als L'Chaim (»Auf das Leben!«) innerhalb kurzer Zeit einen Namen gemacht. Ihren Einstand gab die organisierte »Minderheit in der Minderheit« auf der letzten CSD-Demo, zur Zeit des Golfkriegs eroberte sie mit einer klugen Stellungnahme das Herz der Medien, später organisierte sie einen Workshop über Antisemitismus unter Homosexuellen. Weil nun zufällig die Hälfte der L'Chaim-MitstreiterInnen vom Schreiben lebt, lag zum einjährigen Gruppengeburtstag nichts näher als eine Lesung.

Unter der Headline »Auch ich war in Arkadien nicht geboren« (nach einem Exil-Gedicht von Masha Kalko) wird L'Chaim heute abend im Kaffee Graefe Prosa, Lyrik und Reportagen zum Vortrag bringen: Artikel der Journalistin Maria Baader, Gedichte von Rivka Jaussi und Kurzgeschichten von Eric Gabriel, doch ebenso private Tagebuchnotizen. Ob vom Profi oder Laien, die Texte handeln von den AutorInnen selbst, von ihrem Jüdischsein und ihrer Liebe zum gleichen Geschlecht. Diese gemeinsame Erfahrung ist dann auch der rote Faden, der die Lesung zusammenhält. Obwohl die Texte mit der traditionellen jüdischen brechen, behält doch gerade diese Kultur bei L'Chaim eine größere Bedeutung als die homosexuelle Identität; es sind die Auseinandersetzungen der jungen jüdischen Generation, die nach 1945 in Deutschland geboren wurde. Daß sich das Engagement von L'Chaim dennoch auf die schwul-lesbische Szene begrenzt, erklärt Eric mit den Berührungsschwierigkeiten der Jüdischen Gemeinde: »Für Galinski sind wir eine kleine Provokation.«

Mit der Lesung schenkt L'Chaim den Gojim einen Beitrag zum Christopher Street Day, der Neues bietet. Nicht pädagogisch aufbereitet, sondern persönlich. Ein Angebot, sich näher mit dem Alltag lesbischer und schwuler JüdInnen auseinanderzusetzen, und damit die Chance, jüdische Kultur wieder in den schwul-lesbischen Alltag zurückzuholen. Denn schon allein das Wissen, daß auch der Gründer der ersten deutschen Homosexuellen-Bewegung und wackere Kämpfer gegen den Paragraphen 175, Magnus Hirschfeld, ein Jude war, hat die heutige Lesben- und Schwulenszene größtenteils verloren.

L'Chaim veranstaltet am kommenden Freitag um 19 Uhr einen Sabbat, Ort bitte bei Mann-O-Meter, Tel. (West) 216 80 08 erfragen, dort auch Kontakt zur Gruppe. Micha Schulze

LESUNGUM20.30UHR,GRAEFESTR.18,1-61

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