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„Ich will mein Volk aus seinem tiefen Schlaf aufwecken“

■ In Nevada versuchten Shoshone-Indianer und Friedensbewegte erstmals in der Geschichte gemeinsam einen Atomtest zu verhindern — der große Knall ging trotzdem los

„Komm in mein Wohnzimmer, setz dich zu mir“, sagte Bill Rosse, 63, Indianer des Stammes der Shoshone — und lachte. Wohnzimmer? Steinig und knallheiß ist es dort, aber am schlimmsten ist der feine Staub, der durch die Luft wirbelt: Er ist radioaktiv verseucht.

Die Einladung überraschte mich, aber eigentlich hätte ich längst wissen müssen, warum Bill Rosse von seinem Wohnzimmer spricht. Er und die 15 anderen Indianer, die vom 29. März bis zum 7. April auf dem Gelände der „Nevada Test Site“ demonstrierten, wollten der Öffentlichkeit einmal mehr in Erinnerung rufen, daß das riesige Atomtestareal nicht den amerikanischen Militärs, sondern Indianern gehört. 38 Meilen von Las Vegas fand in diesem Jahr über Ostern eine Aktion statt, die als Beginn einer Annäherung zwischen Shoshone-Indianern und amerikanischen Friedensgruppen bezeichnet werden kann. Denn zum ersten Mal protestierten sie gemeinsam gegen die unterirdischen Atomtests, gegen den Raubbau an der Natur und die drohende Gefahr einer Atommülldeponie auf dem mit Stacheldraht abgesperrten riesigen Terrain. Ausgerechnet in der wundgebombten Erde des Yucca Flat will der US-Kongreß das erste Endlager für hochradioaktive Abfälle errichten, obwohl Experten vor der erhöhten Erdbebengefahr und undichtem Grundgestein warnen.

Etwa 2.000 Frauen und Männer waren gekommen. Ihre Kinder hatten sie zu Hause gelassen. Radioaktive Niedrigstrahlung trifft die Kleinsten am empfindlichsten. Aus diesem Grund hatten die Organisatoren des Camps dazu aufgerufen, Kinder keinesfalls diesem Risiko auszusetzen.

„Es war höchste Zeit, daß wir uns kennenlernen und die Indianer in ihrem Kampf gegen die amerikanische Regierung unterstützen“, sagte eine Friedensfrau aus Oregon. Und sie fügte hinzu: „Wir wollen die Indianer auch in ihrer Spiritualität besser verstehen.“ In den vergangenen 20 Jahren waren die amerikanischen Friedensgruppen während ihres Oster-Camps in Nevada immer unter sich geblieben. Die „Weißen“ sprachen für die Indianer, aber nicht mit ihnen.

Corbin Harney, spiritueller Kopf der etwa 10.000 Shoshone-Indianer, ist 65 Jahre alt, trägt Jeans, kariertes Hemd und eine rote Schirmmütze. In der behutsam geknüpften Freundschaft mit den „weißen“ Friedensgruppen sieht er die „einzige Chance für eine Umkehr“. Während der Gebete, Gesänge und meditativen Sitzungen war er umringt von Frauen und Männern, die beeindruckt seinen Worten folgten. Eindringlich und sanft, streitbar und unbeugsam, rief er seinen neuen Schwestern und Brüdern zu: „Was tun wir? Wir müssen uns in der ganzen Welt zusammenschließen, um diesen nuklearen Wahnsinn zu stoppen. Wenn wir das nicht tun, wo sollen wir hin? Zu welchem Planeten? Wir haben nur diesen einen.“

Corbin Harney sagte, er sei wegen der jungen Menschen hierhergekommen. Er selber habe keine Familie, aber er kämpfe für die Zukunft der Kinder. „Als ich mein Volk an Krebs sterben sah, kam ich eines Tages hierher. Das war vor fünf Jahren. Ich wollte sehen, wie es hier aussieht. Die Nukleartests ruinieren alle Pflanzen, alle Tiere, zum Beispiel die Schildkröten. Aber es ist ihre Heimat, auch die Heimat der kleinen Kreaturen. Ich will auch mein Volk aus seinem tiefen Schlaf aufwecken, daß es gegen diese Test Site kämpft.“

Er berichtete, daß das Wasser in Battle Mountain, wo er lebt, im Frühling vergangenen Jahres verstrahlt gewesen sei: „Wie lange kannst du ohne Wasser leben?“ Das Wasser sei tot und ohne Seele, wenn es nur noch abgekocht getrunken werden dürfe. Und in manchen Orten müßten die Menschen ihr Wasser im Supermarkt kaufen, weil auch das Abkochen nicht helfe. An den sterbenden Pflanzen sehe er, daß auch die Menschen ohne sauberes Wasser keine Zukunft mehr haben.

Am ersten Tag der ungewöhnlichen Zusammenkunft führte der Medizinmann vor, wie der Einlaß auf das militärische Gebiet ein Kinderspiel wird. Er nahm einen Bolzenschneider und zwackte den anderthalb Meter hohen Stacheldrahtzaun von oben bis unten durch. Durch das selbstgeschaffene Tor passierten als erstes bunte, ausrangierte Schulbusse, die Zelte, Lebensmittel und Wassertanks brachten.

Die Polizisten, die sofort ihren Beobachtungsposten vom Nevada-Highway 95 verließen, nahmen die zwei „weißen“ Helfer von Corbin Harney fest und brachten sie zur Feststellung der Personalien ins 54 Meilen entfernte Beatty, Sitz des Regionalgefängnisses. Corbin Harney, den geistigen Führer der Shoshone-Indianer, ließen die Polizisten in Ruhe, weil sie — wie die Friedensgruppen vermuteten — ein zu großes öffentliches Aufsehen vermeiden wollten.

Aber während der Friedenswoche in Nevada sperrte die Polizei dann täglich ein paar hundert Demonstranten für Stunden in einen großen Gitterkäfig, nachdem sie es immer wieder gewagt hatten, vor dem Haupttor des Test Site zu protestieren. Dann wurden die friedlichen Demonstranten stundenlang auf der Polizeistation von Beatty festgehalten. Der Staat demonstrierte mit Schikanen seine Macht, die Polizisten verhängten Geldstrafen, die aber niemand bezahlte.

Am sechsten Tag des Friedenscamps bebte der Boden. Alle spürten die Erschütterungen, die von dem unterirdischen Atomtest ausging. „Wahnsinn“, sagte Corbin Harney immer wieder — und mit ihm alle, die nach Nevada gekommen waren. Er wird auf der Abrüstungskonferenz in Stockholm sprechen, die vom 27. bis 30. Juni in der schwedischen Hauptstadt stattfindet. „Vielleicht bin ich verrückt“, könnte er dort sagen, „aber so wie wir leben, ist das Leben sehr gefährlich.“ sau

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