FLASHBACK

■ Berlin 1846 - Eine Erinnerung an die Zukunft

Der Schwindel, der in Berlin mit Sachen aller Art getrieben wird und immer wieder neue Bahnen öffnet, täuscht fortwährend auch die Vorsichtigsten, und gerade diese am allermeisten. Unternehmungen fabelhafter Art, besonders Häuserspekulationen sind der Köder, mit dem die ehrsamen Spießbürger angelockt werden und nicht selten daran verbluten. Der Häuserkauf ist in Berlin etwas Alltägliches; jeder kauft auf Spekulation und ist in derselben Stunde wieder zum Verkauf verurteilt, wenn er es nicht schon im voraus getan hat. Diese Leichtfertigkeit des Handels gibt dem Philister eine gewisse Sorglosigkeit, zumal er glaubt, daß er durch Spekulationen dieser Art noch am sichersten gehe. Die verschiedenen Weisen jedoch, mit welchen Gauner bei Unternehmungen dieser Art zu Werke gehen, sind zahllos. Am gangbarsten ist eine, welche trotz vieler Warnungen immer noch Resultate erschwingt. Es ist nämlich bei allen Kontrakten Sitte, ein Reuegeld für den Fall festzusetzen, daß einer der Kontrahenten zurückträte. (...) Ist nun der Kontrakt soweit in Ordnung, so werden plötzlich dem Philister die ungünstigsten Nachrichten über die Verhältnisse des Käufers überbracht; der Mann erschrickt und läßt sich am Ende zur Zahlung einer kleinen Summe bewegen, statt daß er das Ganze aufs Spiel setze. Falsche Dokumente, Scheinkäufe und dergleichen sind die Grundlage, auf der die Gauner ihr Unternehmen mit der Unvorsichtigkeit des Philisters bauen; ja, vor einiger Zeit kam es in Potsdam vor, daß ein Mann ungeheure Kapitalien auf ein Haus geliehen hatte, welches, wie sich später ergab, gar nicht existierte.“

Heute sind in Potsdam und Umgebung „Unternehmungen“ wie diese wieder an der Tagesordnung — dem 24jährigen Ernst Dronke, der in seinem 1846 erschienenen Buch Berlin darüber berichtete, brachte die Veröffentlichung zwei Jahre Haft ein — wegen „boshafter Äußerungen über den König von Preußen“, „unerbietigen und frechen Tadel der preußischen Landesgesetze“ und Beleidigung des Berliner Polizeidirektors. Letzterer war von Dronke, völlig zu Recht, bezichtigt worden, bezahlte Lockspitzel („Vigilanten“) einzusetzen. Zwei Jahre hatte der Autor die Straßen und Plätze der Hauptstadt durchstreift und seine Beobachtungen des öffentlichen und privaten Lebens, der Ökonomie und Politik, der Eckensteher wie der Regierungsvertreter in einer grandiosen Reportage zusammengefaßt. Nach der Flucht aus der Haftanstalt trat er später in die Redaktion der 'Rheinischen Zeitung‘ ein und ging, nach der endgültigen Ausweisung, wie sein Kollege Marx ins Exil nach England.

Dronkes Bericht (1987 in der Sammlung Luchterhand wieder aufgelegt) ist nicht nur frühes Dokument eines wachen und bissigen Journalismus, den man heute „sozial engagiert“ nennen würde — er ist gerade jetzt, wo in Berlin wieder eine „neue Zeit“ anbricht, von erstaunlicher Aktualität, nicht nur was Bodenspekulation und Mietwucher betrifft: „Das Raubrittertum des Feudalstaats mit seiner Willkür des Geburtsdespotimsus und des heimlichen Gerichtsverfahrens ist verdrängt und an seiner Statt das Raubrittertum des Gelddespotismus, die Industrieritterschaft des freien Handels und der ,freien‘, ,gesetzlichen‘ Plünderung der Massen hergestellt.“ Sicher, heute würde wegen solcher Sätze niemand mehr ausgewiesen, doch macht das die Lage nicht unbedingt leichter. Eher scheint sich die Tragödie tatsächlich als Farce zu wiederholen, betrachtet man etwa, wie ein Verkehrsminister die staatlich lizenzierten Wegelagerer-Posten an Autobahnen verhökert, ein Berliner Bürgermeister die Verträge dazu einfädelt, und insgesamt der „Gelddespotimsus“ nicht nur frei und gesetzlich, sondern Arm in Arm mit den „Volksvertretern“ dem Raubrittertum frönt. Eine Kumpanei, wie sie zu Zeiten von Preußens Gloria, als der Abgeordnete nach Abschluß der Dienstlektüre die Zweitlampe mit dem Privatöl entzündete, noch ziemlich undenkbar war. Was aber die Stadtentwicklung betrifft, liest sich Dronkes Beschreibung aus dem Jahr 1846 wie eine Erinnerung an die Zukunft:

„Unter den Linden hat sich die mächtige Bourgeosie in ihre Reihen eingedrängt, und am entgegengesetzten Ende der Wilhelmstraße, dem Halleschen Tor zu, findet man bereits einzelne Höhlen des Proletariats. So berühren sich die Extreme und bald wird vielleicht auch diese Schranke aufgehoben sein... Das Krämer-und Fabrikantentum hat sich weiter hinaus nach Luisenstadt ausgedehnt. Dieser Kaste folgt konsequent das Proletariat auf dem Fuß, und so findet man es sowohl in Dachkammern und Handelshäusern wie in den Hütten neben den Fabriken. Nur ein Teil des Proletariats und der düsteren Armut birgt sich wie ausgestoßen aus dieser Gesellschaft draußen vor den Toren des nordwestlichen Stadtteils. Dort ist das Elend in seiner letzten, furchtbarsten Gestalt. Diese Parias hören nichts von dem Branden und Brausen des inneren Lebens der Hauptstadt, und wenn sie hineinkommen, so bezeichnet das Blut der Wachen und Polizeisoldaten und die Angriffe gegen Leben und Eigentum der Einwohner die Spuren ihres Wegs.“

Stadtsoziologen, heißt es in der jüngsten Ausgabe des 'Spiegel‘, prophezeien Berlin „einen reichen Kern, einen bürgerlichen Gürtel und einen Armenring um die Stadt“.

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