: Am Ende der Geschichte
■ Ein Theaterprojekt von Christof Nel und Ulrich Waller
Wer reflektiert eigentlich Geschichte? Wird nicht viel mehr die Zeit selbst reflektiert? Darüber debattierten am vergangenen Wochenende Wissenschaftler bei den Frankfurter Römerberg-Gesprächen, zeitgleich zu Ulrich Waller und Christof Nel, die im Frankfurter TAT dasselbe Thema auf die Bühne brachten. Ihr Projekt war betitelt mit dem treffenden Satz: „Das Gedächtnis mißt sich an der Geschwindigkeit des Vergessens.“
„Wie sitzt man in einer Demokratie?“, fragt Bühnenbildner Michael Simon: vis-à-vis. Zur gleichen Zeit probten Wissenschaftler im Frankfurter Römer die Demokratie der Sitzordnung. Im Plenarsaal bildete das Publikum eine Riege von Abgeordneten, die Hochschulprofessoren fungierten als Vorsitzende, und die Redner saßen auf Ministerposten — Herrschaft der Wissenschaft für zwei bekenntnisreiche Tage.
Im Theater am Turm sitzt das Publikum wie auf Kirchenbänken, vis- à-vis zu den Schauspielern: „In diesem Theater spiele ich schon seit 1986“, sagen die Darsteller. Es ist ihre Geschichte. Die kommt daher wie Selbsterfahrung, die dort Hand in Hand mit der Geschichte geht, wie die Zeit zum Raum gehört.
Ulrich Waller und Christof Nel reflektieren Geschichte, weniger als Kritik der Geschichte, sondern — auf die Zeit gemünzt — als Kritik der Geschichts-Beschleunigung. Warenverkehr und Kommunikation sind zu einem so temporeichen Austausch von Produkten und Informationen geworden, daß sie jede Grenze und jede Differenz niederreißen. Sagte man eben noch auf dem Römerberg. Die Differenz verschiedener Geschichte aber bedeutet nun, daß der Wessi den Ossi nicht mehr nach seiner Erfahrung fragt, sondern dem Ossi die westliche Beschleunigung als gemeinsamen „Diskurs“ empfiehlt. Denn es gilt: Wir sind alle gleich, nur verschieden schnell. Sagt das Theater.
Ulrich Wallers Collagenstück Das Gedächtnis mißt sich an der Geschwindigkeit des Vergessens spielt mit Schauspielern und Tänzern aus Ost- und Westdeutschland, aus Amerika und der Schweiz. Agiert wird auf einem sich kontinuierlich drehenden „Rad der Geschichte“, einer Drehbühne, die sich nicht anhalten läßt und die sich mit der Präzision eines Sekundenzeigers von der Vergangenheit in die Zukunft bewegt — zyklisch. Als Reminiszenz an Grenze und Mauer verdeckt eine in regelmäßigen Abständen auf der Drehbühne mitfahrende Wand die Sicht auf die Bühne.
Das Stück wirkt wie eine Improvisation, eine Probensituation, die es noch gestattet, einen Satz immer wieder sprechen zu lassen, immer wieder von vorne zu beginnen, dasselbe immer neu zu variieren und zu repetieren — jederzeit kann man von vorn beginnen; Geschichte kann es nicht. Um diese Differenz ist es Nel und Waller eindreiviertel Stunden eindrucksvoll zu tun: Was kann das Theater im Augenblick der sich immer schneller rotierenden, aber ziellosen Geschichte zum Ausdruck bringen? Es kann das Vergessen hochhalten, kann es entsprechend gestammelt repetieren. Alles andere bleibt Improvisation, und dazwischen ein paar wenige gedichtete Worte: Die Zellen eines Körpers, sagt eine junge Mutter, erneuern sich alle sieben Jahre vollständig, „woraus folgt, daß bei Einschulung mein Kind gar nicht mehr mein Kind ist, und ich bin nicht mehr seine Mutter. Ich bin jetzt 31 Jahre alt und bin also viereinhalbmal eine andere geworden. Und vielleicht, das ist das Schlimmste, erinnern sich meine Zellen nicht, wer sie vorher waren. Ich werde dann eine andere gewesen sein...“
Letzteres ist Handkes Kaspar, Zitate fallen, Doppelgänger gehen, Mutationen folgen, die Schauspieler werden zu Berliner Bären, alles verändert sich, alles vergißt, alles repetiert. Mehr nicht, dafür alles zugleich: Geschichtstheater ist es, selbstreflexiv auf seinen kürzesten Nenner gespielt. Arnd Wesemann
Christof Nel/Ulrich Waller: Das Gedächtnis mißt sich an der Geschwindigkeit des Vergessens . Regie: Christof Nel. Bühne: Michael Simon. TAT Frankfurt. Weitere Vorstellungen: Bis 30.Juni, 20.30 Uhr.
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