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Die ganze Welt flüsternd

Paul Simon und großes Orchester auf „Rhythm“-Tournee  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Die Berliner „Waldbühne“ war die dritte Station in Paul Simons Tournee, die an Aufwand dem Graceland-Projekt gleicht und doch vollständiger das Porträt des Künstlers als nicht mehr ganz jungem Mann zeichnet. Fünf Perkussionisten, drei Bläser, zwei Gitarristen und ein Bassist sind die Begleiter im ersten Stück The Obvious Child, das im Vergleich zur Plattenfassung verlangsamt und gedehnt gesungen wird — Simons freudige, eher fragende als behauptende Melodie gegen die Farben der Instrumente. Dabei bleibt er an diesem Abend: Keine Silbe wird verloren gegeben, die Vokalphrasierungen sind schmuckvoll. Die Arrangements sind gründlich geprobt, aber nicht einmal kippt die Routine der Band ab ins Öde.

Mit der zweiten Nummer, dem apokalyptischen The Boy in the Bubble greift Simon zurück auf das südafrikanisch inspirierte Graceland-Album, aber dann, mit Kodachrome, springt er ins frühe Solowerk. Damals, Anfang der Siebziger, hatte er sich mit Gospel und Reggae vom Pathos-Duo mit Art Garfunkel losgesagt. Der Titel mit dem ironisch geleierten Refrain wird durch die Perkussionistenfront (alle fünf erhöht plaziert in einer Reihe) gleichsam geerdet, schwergemacht, und bekommt erst gegen Ende die nervöse Geschwindigkeit der Originalfassung. Mit dem letzten Akkord stehen drei Backgroundsänger, zwei Frauen und ein Mann, auf der Bühne, um Born at the Right Time im Quartett mit Simon zu eröffnen, überraschenderweise mit dem Refrain, der sentimental die Existenz von Kindern beschwört, die — weil zur richtigen Zeit geboren — Einsamkeit und Angst nie kennengelernt haben. In einer Strophe des Lieds wird allerdings deutlich, daß die Kinder mit den „Augen so klar wie Jahrhunderte“ vom Sänger-Ich in den überfüllten Lounges der Flughäfen zwischen „Washington and Tokyo“ gesichtet worden sind.

Das ist wohl die Perspektive eines sehr erfolgreichen Musikers, der Paul Simon mit 48 Jahren ist. Was er betreibt, ist eine Art Gentechnologie in der Popkultur. Er importiert die Rhythmen und die Riffs aus Südafrika und Brasilien und montiert sie in New York zu komplexen Gebilden, die seine sprunghaften Poeme und durchtriebenen Gesangsphrasen auffangen wie Stromstöße. Es ist schon seltsam genug, das Komponieren in der ersten Phase auf das Kollagieren von Weltmusik zu verlegen, und noch seltsamer ist es, daß es Simon gelingt, gerade mit diesem Verfahren stilistische Einzigartigkeit zu erreichen. Seine Musik ist kraftvoll und geladen, keine Nebenrolle ist unterbesetzt, und der Sound auch unter offenem Himmel distinkt und differenziert. Die drei Backgroundsänger überhöhen heiser die samtene Stimme Simons, die The Whole World Whispering beschwört. Das Flüstern dieser Musik aber hat nicht das falsche Leise gnadenlos reimender Schlager und nicht die kunstvoll gestrickte Betulichkeit sogenannter „ehrlicher“ Musik, Soul und Blues, wie sie jetzt aus allen Ritzen plärren.

Um die „gentechnologische“ Musik auf die Bühne zu bringen, braucht es eine internationale Besetzung, und Simons Musiker sind weniger Band als vielmehr Orchester. Im Vordergrund stehen die E-Gitarristen Ray Phiri und Vincent N'guini sowie der Bassist, sämtlich schwarze Afrikaner; Phiris hart gezupfte, extrem metallische Läufe dominieren den Klang etlicher Stücke. Er spielt auch das Intro von I Know What I Know, einem Ohrwurm, der durch hysterische Hickser der dann nur noch weiblichen Sängerinnen zu seinem Vorteil ins Komische gezogen wird. Für dieses eine Stück den männlichen Backgroundsänger herauszunehmen, entspricht Simons Artistik in der Führung seines Orchesters, dessen Klangfarben er hervorbringt, als zöge er Register. Auch renommierte New Yorker sind dabei: Richard Tee, der mit seinem walzernden Piano Bridge over Troubled Water vor dem Schmelzen rettet und Michael Brecker, der am Saxophon in die Wiederholung des Hits You Can Call Me Al eine diamantene Schneise schlägt. Die Stromlinienförmigkeit des Songs wird nur bedingt genutzt, die Instrumentierung klingt leicht atonal, und Simon, der in der Originalfassung sein eigener Backgroundsänger ist, singt den Refrain allein. Er schöpft aus dem Vollen und kann daher auf den Stimulus satter Harmonien verzichten.

Noch dichter wird das Zusammenspiel bei Mitte des Sets in Proof, das mit jagenden Bläsern und atemberaubenden Pausen beispielhaft ein Thema Simonscher Musik wichtig macht: den Aufschub. In einen Break spricht Simon (der sonst kaum zum dem Publikum spricht): The rain stops, it's got to be that way, it's got to be that way — die Wiederholung nur aus Lust an dem Satz. Tatsächlich hat nur wenige Minuten vor dem Auftritt eine Wolkenlichtung über dem Gelände halt gemacht, während sich rundherum der dunkelgraue Regenhimmel wieder zusammenballt.

Mit Proof schöpft Simon zum letzten Mal aus dem Material der letzten, melancholischen Platte The Rhythm of the Saints. Statt dessen folgen Ausflüge entlang der Hitlinie in die vergangenen zwei Jahrzehnte, deutlich unterbrochen allerdings durch den Vortrag einer eher komplizierten Ballade Hearts and Bones, die die Sehnsucht eines getrennten Paares nach der vergangenen Liebe in Termini der Diaspora beschreibt; Simons akustische Gitarre im Dialog mit einer satt und hölzern gespielten Violine. Für die Zugaben nimmt Simon Zuflucht zu den ältesten seiner populären Songs: Cecilia noch verzeihlich, weil es von den Disharmonien einer aufdringlichen Flöte absolut demoliert wird; Sounds of Silence fast unbegreiflich, weil nun das äußerst heterogene und dankbare Publikum nicht mit den dichten Rhythmen der Weltmusik im Herzen vor dem Regen in die Doppeldeckerbusse flüchtet, sondern mit einem pathetischen Schlager im Kopf, den man mal gut für zwei Jahrzehnte vergessen könnte.

Paul Simon und siebzehn Musiker auf Tournee 1991: 29.6. Hamburg, 3.7. Stuttgart, 4.7. Dortmund, 9.7. Zürich.

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