: Europäische Gemeinschaft setzt KSZE-Krisenmechanismus in Gang
■ Luxemburger Gipfel empfiehlt den neuen Staaten ein dreimonatiges Moratorium
Ja“ solle die EG zur Einheit Jugoslawiens sagen, die Einheit dürfe aber nicht auf Gewalt basieren — Kohlsche Weisheit gab gestern den Ton an, als die EG-Staats- und Regierungschefs zu Beginn ihres Gipfeltreffens in Luxemburg über den Bürgerkrieg im Balkan debattierten. Entsprechend fiel die EG-Aufforderung an die Konfliktparteien aus: Die Gewalt solle sofort eingestellt werden; das Militär müsse zurück in die Kasernen; die zerstrittenen Gruppen sollten Gesprächsbereitschaft zeigen; die Menschen- und Minderheitsrechte müßten gewahrt werden — andernfalls werde die EG ihre gerade unterzeichneten Finanzhilfen in Höhe von 1,6 Milliarden DM einfrieren.
Außerdem empfahlen die EG- Chefs den neuen Staaten Slowenien und Kroatien, doch das von der Belgrader Bundesregierung angebotene dreimonatige Moratorium für die Unabhängigkeitsmaßnahmen zu akzeptieren. Slowenien hatte den Vorschlag jedoch bereits Freitag früh abgelehnt. Dennoch insistierten gestern die Europa-Lenker: Nur so wäre es möglich, den Verhandlungsprozeß wiederzubeleben. Dazu soll die „EG-Troika“, derzeit vertreten durch die Außenminister Italiens, Luxemburgs und der Niederlande, so schnell wie möglich nach Jugoslawien reisen. Ihr Auftrag: mit allen Parteien sprechen. Wie und wo sie ihre Gesprächspartner finden werden, scheint jedoch völlig unklar.
Wohl weil die Zwölf von ihrem Appell selbst wenig überzeugt waren, beschlossen sie zusätzlich, beim Büro der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Prag den Antrag zu stellen, daß der KSZE-Krisenmechanismus ausgelöst wird. Zwar sind mindestens 13 der 35 Mitgliedsländer nötig, um das sonst heilige „Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten“ anderer Staaten zu durchbrechen. Kohl gab sich aber zuversichtlich. Die USA, Norwegen und Österreich hätten sich schon dazu bereit erklärt, wußte er zu berichten. Die Meinung des Bundeskanzlers ist zur Zeit besonders gefragt. Schließlich hat er vor einigen Tagen die Rolle des Vorsitzenden der KSZE übernommen.
Im Namen der Zwölf soll nun der Luxemburger Außenminister Poos in Belgrad vorstellig werden und die jugoslawische Regierung ermahnen. Diese hat dann 48 Stunden Zeit, um eine Antwort zu geben. Falls sie nicht befriedigend ausfällt, wird der eigentliche Krisenmechanismus in Gang gesetzt.
Rückendeckung erhielt Kohl vom italienischen Staatschef Andreotti: „Ganz Europa ist jetzt gefordert, einen Bürgerkrieg zu verhindern.“ Diese Einsicht hat sich allerdings nicht in einem Kurswechsel der Zwölf niedergeschlagen. Noch immer unterstützen sie in erster Linie die von serbischen Kommunisten kontrollierte Bundesregierung, ermahnen sie jedoch gleichzeitig, die Menschen- und Minderheitsrechte nicht zu verletzen. Angesichts der Militäraktionen wächst allerdings die Kritik. Mitterrand hält es für immer schwieriger, die Einheit Jugoslawiens zu unterstützen. Deshalb müsse die Troika eindeutig für das Selbstbestimmungsrecht der Bundesstaaten und die Respektierung demokratischer Entscheidungen eintreten. Eine klare Position für die Troika forderte auch der spanische Regierungschef Gonzales.
Der britische Major tritt hingegen stärker für den Erhalt der staatlichen Einheit ein. Die EG habe eine „Balance“ zwischen den nach Unabhängigkeit strebenden Völkern und der Wahrung der Einheit einzuhalten. Wie die meisten anderen will er verhindern, daß das reiche und das arme Jugoslawien auseinanderfallen. Dadurch enstünden neue Armenhäuser, die von der Hilfe der westlichen Länder abhängig wären. Denn die meisten der sechs Republiken und zwei autonomen Provinzen hätten — wirtschaftlich allein auf sich gestellt — kaum Überlebenschancen.
Ein Auseinandergehen widerspricht auch dem eigenen Anspruch der Zwölf, Grenzen eher ab- als aufzubauen. „Stabilität“ ist in diesem Zusammenhang ein vielbenutztes Wort, Stabilität bedeutet vor allem Unantastbarkeit der Grenzen. Denn wenn, wie in Jugoslawien, Grenzen in Frage gestellt oder neue Grenzen gezogen werden, könnte dies Vorbildcharakter haben für andere Regionen und Ethnien nicht nur auf dem Balkan und in Mittelosteuropa. Schließlich sind auch in der EG Autonomiebestrebungen und Grenzänderungswünsche nicht völlig ausgemerzt. Korsika, Katalonien oder Schottland sind dabei nur die bekanntesten. Andere könnten folgen und die nationalen Regierungen das Fürchten lehren. Diese haben sich jedoch nicht umsonst mit Hilfe der EG von vielen lästigen Kontrollen, sei es durch Parlamente oder Regionalregierungen, befreit. Einmal auf dem Zenit ihrer Macht, wollen sie dort auch verweilen. Um ihre Machtbasis im Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion sowie der politischen Union noch weiter auszubauen, sind die Staats- und Regierungschefs schließlich nach Luxemburg gekommen — nicht, um wirklich eine Lösung für die regionale Neuordnung Europas zu finden.
Kritik an Genscher in Bonn
In Bonn wurde unterdessen Außenminister Genscher sowohl von der Union als auch von der SPD wegen seiner Haltung im Jugoslawien-Konflikt kritisiert. Der bayerische CSU- Innenminister Edmund Stoiber warf Genscher vor, sich „auf die Seite der Unterdrücker“ zu stellen. Der „Kurswechsel“ des Außenministers auf dem Luxemburger EG-Gipfel komme jedoch „deutlich zu spät“, kritisierte die CSU. Außerdem reichten die bislang beschlossenen Maßnahmen nicht aus. Die EG-Präsidentschaft müsse „auf höchster politischer Ebene“ in Belgrad vorstellig werden. SPD-Fraktionsvize Gansel warf der Bundesregierung vor, sich wie die anderen EG-Staaten und die USA bislang für die Beibehaltung der staatlichen Ordnung in Jugoslawien eingesetzt zu haben. Der FDP- Vorsitzende Otto Graf Lambsdorff bezeichnete Jugoslawien als „Pulverfaß“, an dem die Lunte bereits brenne. Wenn EG und KSZE nicht schnell handelten, drohe die Region unversehens in Flammen aufzugehen. Michael Bullard, Luxemburg/ dpa
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