piwik no script img

„Bomb now - Kill later“

■ Im Irak nimmt das Sterben kein Ende. Nach Krieg und Bürgerkrieg fordern jetzt Typhus, Diarrhöe und Cholera vor allem unter Kindern ihre Opfer. In halb zerstörten und geplünderten Krankenhäusern im ganzen Land siechen Tausende dem Tod entgegen.

Herbert Grießhammer reiste für die internationale Hilfsorganisation „Gulf Peace Team“ mehrere Wochen durch den Irak, um dort beim Wiederaufbau von Krankenhäusern und der zivilen Infrastruktur zu helfen. Während seiner Reise, die ihn nach Bagdad und in den Süden des Landes führte, notierte er seine Eindrücke. Einige seiner Notizen sind im folgenden nachzulesen.

Saddam-City, Armenviertel von Bagdad

„Vor dem Krieg war das hier eine sehr einfache Gegend, aber sehen sie, was die Amerikaner daraus gemacht haben: Jetzt ist es ein Slum“, klagt der Arzt Dr. Abdul Hanna während er mich in seinem Wagen durch den Außenbezirk der irakischen Hauptstadt fährt, in dem er seine Praxis hat. Die Häuser in Saddam-City sind flach und gleichförmig. Im Gegensatz zum Zentrum von Bagdad, tragen hier alle Frauen den traditionellen schwarzen Umhang, der nur Gesicht und Füße freiläßt. „Das hier ist das größte Armenviertel Bagdads“, erklärt der Arzt, „Niemand weiß, wi viele Menschen hier wohnen, man schätzt etwa eine Million. Die meisten Familien hier haben zehn oder sogar mehr Kinder. In den engen Häusern wohnen oft zwei oder drei Familien.“ In Saddam-City gibt es keine höheren Schulen, die meisten Kinder werden von den Eltern zum Geldverdienen geschickt. Mädchen werden meist schon mit vierzehn oder fünfzehn Jahren verheiratet, mit zwanzig haben sie häufig schon ihr drittes Kind.

„Setzen sie sich in meine Praxis und fragen sie die Mütter, wie oft sie sich im Monat einen halben Liter Milch für zehn Dinar oder ein Kilo Mehl für fünf Dinar leisten können. Jeder zweite Mann ist hier arbeitslos.“ Dr. Abdul Hanna fährt langsam durch große Wasserlachen. Wir kurbeln die Fenster hoch, weil Gestank in den Wagen dringt. „Wenn in anderen Stadtteilen die Kanalisation zusammmenbricht, wird sie so schnell es geht wieder repariert, aber hier passiert nichts. Die Leute hier sind nicht nur arm, sie sind auch Schiiten, daß heißt, sie müssen warten“, erklärt er die Situation.

Seit drei Monaten wird in Saddam-City der Abfall nicht mehr beseitigt. Die BewohnerInnen kippen ihren Müll auf freie Plätze, so daß in jeder Straße mehrere große Halden entstanden sind, auf denen die Kinder spielen. Wir passieren drei Häuserzeilen, die in einem flachen See aus Kloake stehen. Was in der Tageshitze verdunstet, quillt aus den Gullis nach.

Dr. Hannas Praxis liegt im ersten Stock eines heruntergekommenen Hauses. Mit dem Apotheker aus dem Untergeschoß arbeitet der Arzt Hand in Hand, gemeinsam besorgen sie manchmal Medikamente vom Schwarzmarkt. „Dort gibt es alles“, erklärt Dr. Hanna, „von Antibiotika bis zu Blutkonserven, aber meine Patienten können die meisten Medikamente nicht bezahlen.“ Im Treppenhaus warten dreißig Frauen und Kinder auf Untersuchung und Behandlung. Der Ventilator und die Klimaanlage stehen still, es gibt keinen Strom in der Praxis. Ein Assistent führt ununterbrochen Schwangerschaftsuntersuchungen durch. Im Vorzimmer holt er Urinproben ein, tupft Tropfen davon auf einen präparierten Glasträger und untersucht sie mit einem Mikroskop neben dem Waschbecken.

Neun von zehn Patienten haben die gleichen Beschwerden: Durchfall, Erbrechen, Gewichtsabnahme, Schwäche, Müdigkeit — Diarrhöe. Die Magen- und Darminfektionen wurden durch verseuchtes Wasser verursacht. Eigentlich ist die Krankheit leicht zu behandeln, vorausgesetzt es gibt die richtigen Medikamente und die Kranken infizieren sich nicht erneut.

Dr. Abdul arbeitet konzentriert und mit gleichbleibendem Elan. Er lacht, muntert die Patienten auf, bittet manche Frauen und Kinder auf eine Liege. Bei Kindern kann er Hemd oder Pullover hochschieben und sein Stethoskop ansetzen. Den Frauen stellt er Fragen und deutet auf Körperteile, nur durch die Kleidung kann er versuchen, Schmerzen zu lokalisieren. Immer wieder kommen Frauen zurück in die Praxis, um die eingekauften Medikamente kontrollieren zu lassen.

In Saddam-City bereitet sich inzwischen eine Krankheit aus, die Dr. Hanna mehr fürchtet, als Diarrhöe: Typhus. Ihm zu begegnen erfordert eine Prophylaxe für den ganzen Stadtteil, doch an Impfstoffe, sagt Dr. Hanna, brauche er nicht einmal zu denken.

Amara im schiitischen Süden des Irak

Die Stadt im schiitischen Süden des Landes liegt rund 350 Kilometer von Bagdad entfernt. 100.000 EinwohnerInnen leben hier in flachen, staubigen Häusern zu beiden Seiten des schlammig grünbraunen Tigris. Amara ist die Hauptstadt des Distrikts Misan, der in seiner ganzen Länge an den Iran grenzt.

Die Lebensbedingungen hier sprechen für den gesamten Süden. Während des Krieges zerstörten die Alliierten hier nicht nur alle Brücken, sondern auch Elektrizitäts- und Wasserwerke, Schulen, Wohnhäuser, die Hauptpost und den größten Kindergarten. Am schlimmsten wurde die Secundary School getroffen. Die Alliierten setzten hier offenbar Cruise Missiles ein, die im waagerechten Flug riesige Löcher in mehrere hintereinanderstehende Mauern rissen und dann explodierten.

Das größte Krankenhaus von Amara wurde 1986 errichtet. Es ist eines jener dreizehn modernen Saddam-Hospitäler, die 1986 von einer japanischen Firma gebaut wurden. Es hat die Angriffe der Alliierten, den Aufstand der Schiiten und dessen anschließende Niederschlagung durch das irakische Militär überstanden. Im sechsten Stock befindet sich die Kinderstation mit siebzig Betten. Der Leiter der Abteilung, Dr. Aymen Beyruti, führt mich durch die Station. Auf dem Boden oder in den Betten, neben den kleinen Kindern und den eingewickelten Babys sitzen ihre Mütter. Sie übernachten neben ihren Kindern, füttern sie, fächeln ihnen Luft zu. In den Zimmern ist es drückend heiß. Die Klimaanlage kann wegen eines fehlenden Ersatzteils für den dazugehörenden Generator nicht betrieben werden.

Dr. Beyruti erklärt die Krankheitsverläufe von Diarrhöe und Unterernährung. Die schlimmsten Fälle auf der Station sind die Merasmus- Kinder, Kleinkinder mit Gesichtern wie Greise. Sie haben eingesunkene Schädel und dünne, faltige Arme und Beine. Das jüngste Merasmus-Kind auf der Station ist fünf Tage alt. „Die meisten Eltern bringen ihre Kinder zu spät hierher. Wenn sie überleben, werden sie irreversible Entwicklungsschäden davontragen“, beantwortet der Arzt meine Frage nach den Chancen der Kinder.

Auch mit Fällen von Typhus ist Dr. Beyruti auf seiner Station konfrontiert. Im ganzen Distrikt werden täglich mindestens dreißig Fälle registriert. Zusätzlich gibt es Fälle von Verdacht auf Cholera. Zum eindeutigen Nachweis der Krankheit müßten die PatientInnen müssen isoliert und längere Zeit beobachtet werden, aber bei den bestehenden Verhältnissen ist das unmöglich.

Die staatlichen Rationen von Chloramphenicol, dem Hauptwirkstoff gegen Typhus, decken den Bedarf des Krankenhauses in keinster Weise. Die Erkrankungen nehmen zu und der Sommer mit Temperaturen von 40 bis 55 Grad hat gerade erst begonnen. Dr. Beyruti fürchtet eine Epidemie im Süden des Iraks, aber die wichtigsten Fächer seines Medikamentenlagers sind leer.

Mushara, südlich von Amara

Das Wasserwerk in dem Städtchen wurde zerbombt. Die EinwohnerInnen benutzen nun das alte, bisher stillgelegte wieder, um notdürftig Trinwasser zu poduzieren. Aber das alte Werk ist ein Provisorium, das jederzeit wieder zusammenbrechen kann. Vor allem fehlen Ersatzteile für die Klär- und Filteranlagen aus dem Ausland. Im normalen Betrieb würde das Wasser aus dem Tigris erst grob und dann fein gesiebt und anschließend, geklärt, gefiltert und mit Chlor entgkeimt werden. Jetzt wird es nur durch den Klärturm gepumpt und soweit vorhanden mit Chlor versetzt. Weil das Chlor nur einen geringen Teil der organischen und chemischen Krankheitserreger unschädlich zu machen vermag, müßte das Wasser vor dem Gebrauch gekocht werden. Aber durch das immer noch geltende Embargo ist Brennstoff rar und teuer. Vier Fünftel der Bevölkerung können ihn sich nicht leisten und trinken daher das verunreinigte Wasser ungekocht, mit den Folgen Diarrhöe und Unterernährung.

In ländlichen Bezirken reicht die Krankheitsrate unter Säuglingen und Kleinkindern von 70 bis zu 95 Prozent und bis etwa 40 Prozent unter den Erwachsenen. Verursacht durch Lebensmittelmangel durch das Embargo und den Krieg kam es in breiten Bevölkerungsschichten zu Unterernährung. Vielen Müttern versiegte die Milch. Eine Rolle spielten dabei die psychischen Folgen des Kriegs, aber auch die traditionellen Lebensbedingungen, die Frauen auch bei der Essensverteilung benachteiligten. Zudem setzten nach der Bombardierung von Wasser- und Elektrizitätswerken, die Versorgung mit Trinkwasser schlagartig aus. Die Bewohner Musharas begannen, ihr Wasser aus dem Fluß oder aus Kanälen und umliegenden Tümpeln zu holen. Heute noch werden Säuglinge in die Krankenhäuser gebracht, die wochenlang nur Zucker- und Reiswasser oder dreckiges Flußwasser zu trinken bekamen. Die Auswirkungen des Embargos und der Zerstörung der Infrastruktur verstärkten sich gegenseitig.

Das Hospital der Kleinstadt wurde während des Schiitenaufstandes im März geplündert. Fast alle Krankenhäuser und Gesundheitszentren der Gegend erlitten während des Aufstandes das gleiche Schicksal. In einem kleinen Gesundheitszentrum legte vor mir der Chefarzt ein Stethoskop und einen Behälter mit einem Fieberthermometer auf den Tisch und sagte: „Das ist alles, was ich noch habe.“

In dem Krankenhaus von Qala'at Salih gibt es keinen Strom, die Räume sind kahl, ohne Möbel und fast alle ärztlichen Instrumente und Geräte wurden gestohlen. In den Krankenzimmern stehen die nackten Bettgestelle, Matratzen und Bettwäsche wurden ebenfalls geplündert. Der junge Chefarzt ist erst vor drei Wochen hierhin versetzt worden. Was mit seinem Vorgänger geschah, sagt er nicht. Auf Fragen antwortet er leise und resigniert, und einer Besichtigung des Hospitals stimmt er nur zögernd zu. Beim Rundgang zeigt er die intakten Kranken- und Behandlungszimmer. Für acht Betten hat er von seinem privaten Geld Matratzen und Wäsche gekauft. Im Labor befinden sich noch zwei Apparate. In einer Waschschüssel sterilisiert das Personal die übriggebliebenen Instrumente, in einem Bad mit Desinfektionspulver.

Die Unterkunft des Chefarztes, die er mit zwei Kollegen teilt, besteht aus einem schmutzigen Raum mit drei Betten. Die Toilette und Waschgelegenheit sind mit einer dicken Kruste aus Kalk und Schmutz bedeckt. An der Seite steht eine Tonne mit Wasser, an deren Innenwand ebenfalls eine Schicht aus Kalk und den Rückständen verdreckten Wassers klebt. „Das ist unser Trinkwasser, das uns die Arbeiterinnen jeden Tag vom Tigris bringen“, erklärt der junge Arzt auf meinen fragenden Blick.

Beim Rundgang ziehen mich drei Büroangestellte in ihre kleine Schreibstube. Vom Schrank holen sie ein großes, gerahmtes Foto, das sie vom Staub befreien: Saddam Hussein. Stolz stellen sich die beiden neben das Foto und fordern mich auf, sie so zu fotografieren.

Bei der letzten Runde durch das Hospital begleitet mich ein Arzt, der eine Liste mit Namen, Alter und Gewicht der Kinder, die unter Diarrhöe und Marasmus leiden, erstellt. Die Mütter der Kinder sitzen auf den Betten und schauen zu. Zum Teil sind sie selbst noch Kinder von fünfzehn Jahren. Ihre Babys sind in Tücher eingewickelt, die wie Fetzen und Lumpen wirken, ihre Beine und Körper sind zusätzlich verschnürt. Die winzigen Gesichter gucken wie Totenschädel aus den Bündeln, auf denen manchmal die riesige braune Hand der Mutter ruht. Herbert Grießhammer

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen