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Zwei zu eins

Wie die Währungsunion nach Dresden kam  ■ Von Martin Groß

Auf dem Altmarkt hat man ein Bierzelt aufgestellt — das Zelt einer bayerischen Brauerei. Drinnen sitzt man eng gedrängt zwischen Hunderten von Stimmen und der Blasmusik; man stützt die Ellbogen auf den Tisch und hält die neuen Ein-Liter-Krüge in der Hand. Ein paar Männer sind aufgestanden, um miteinander anzustoßen. Auch auf den Bänken stehen sie, laut und triumphierend, und schwenken die Bierkrüge im Takt. Wer direkt neben ihnen sitzt, sieht starr vor sich hin, als bemerke er nicht, was neben ihm geschieht; nur die etwas weiter Entfernten, die sehen sich die Betrunkenen ganz genau an und lachen: So wie die da, so braucht man es doch nicht gleich zu übertreiben.

Die meisten schieben sich allerdings nur zwischen den Bänken hindurch und versuchen, sich einen Reim auf diese neuen Dinge zu machen. Man hält die Lippen geschlossen und scheint vor allem abzuwarten. Mal sehen, was das neue Geld uns bringt — und was die Bayern tun, es uns schmackhaft zu machen. Auf die Bühne haben sie einen Conférencier geschickt, und er berichtet jetzt von seiner Frau, die ihn wegen der heutigen Fahrt nach Dresden um fünfhundert Mark gebeten hat. Die Zuhörer sollen sich also fragen, wozu diese Frau fünfhundert Mark braucht. Nun, die Frau braucht das Geld, um sich ein bißchen herzurichten. Das mag etwas viel sein, aber na schön. Allerdings erfährt man dann, daß dieser Mann seiner Frau sogar fünftausend Mark angeboten hat, aber nur, falls sie bereit wäre, sich gleich auch noch ein bißchen hinzurichten. Offensichtlich soll jetzt gelacht werden. Aber so einfach geht das nicht — beim besten Willen nicht. Wahrscheinlich könnte man auch über einen besseren Witz nicht lachen, denn heute abend ereignet sich hier die Einschulung in eine neue Währung. Also sitzt man stumm und aufmerksam an den Tischen und läßt sich etwas von dem Zauber vorführen, den man in den nächsten Lebensjahren allmählich begreifen wird.

Die Bierkrüge! Wird man glauben, wie viele Bierkrüge verschwinden? Man trinkt sie aus und trägt sie stolz nach Hause, als ob mit den hohen Preisen auch der Krug bezahlt worden sei. Am nächsten Tag wird überall zu lesen sein, sechstausend Bierkrüge seien gestohlen worden. „Gründliche Arbeit!“ sagt Norbert. „Das dürfte so ziemlich jeder zweite gewesen sein.“ Da stehen die Dresdner nun als Diebe da, kaum daß die D-Mark eingeführt ist. Mit so etwas scheint man in Bayern nicht gerechnet zu haben.

Und wenn man doch genau damit gerechnet hätte? Vielleicht hat man haarscharf kalkuliert und diese Art von kollektivem Diebstahl als die preiswerteste Form von Werbung errechnet — nicht nur, weil jetzt in sechstausend Haushalten der Name dieser bayerischen Brauerei prangt, nein, die gesamte Lokalpresse hat über die gestohlenen Bierkrüge berichtet, ausführlich und auf der ersten Seite. Und so viel Aufmerksamkeit kann den möglicherweise entscheidenden Vorsprung vor der Konkurrenz bedeuten, denn auch unter den Brauereien ist ja das ehemals sozialistische Territorium erst noch zu verteilen. Aber daß Diebstahl kalkulierter Bestandteil einer Werbekampagne sein könnte, das will Norbert absolut nicht glauben.

Als ich abends, kurz nach elf, noch einmal auf den Altmarkt gehe, kommen mir ein paar Betrunkene entgegen. Die Veranstaltung im Bierzelt ist offensichtlich bereits zu Ende. Aber das kann doch nicht sein, das eigentliche Ereignis steht ja erst noch bevor. Trotzdem: Man geht auseinander, ruft „Deutschland, Deutschland“ und schwenkt die entsprechende Fahne. Von der erwarteten Stimmung ist nur wenig zu bemerken. In Restgruppen sitzt man herum und sieht von Zeit zu Zeit auf die Uhr, das ist alles. Und wenn man hinterm Zelt über den Rasen geht, bemerkt man erstaunt, daß sich hier in der Innenstadt die Sterne gegen das Licht der Schaufenster und der Straßenlampen behaupten können. Eine so zurückhaltende Beleuchtung würde sich wohl keine westdeutsche Stadt zuschulden kommen lassen. Vor allem nicht in einer solchen Nacht.

Was mir allerdings nicht auffällt, sind die Bierdosen, von denen eine Nachbarin später berichten wird: überall die Jugendlichen, die achtlos ihre leeren Bierdosen zur Seite werfen. Daran erkennt die Nachbarin die neue Zeit. Während ich also um das Festzelt gehe, fallen mir weder die Jugendlichen noch die Bierdosen auf; mich beschäftigt die Frage, warum man wohl das Abendprogramm bereits beendet hat. Ein bayerischer Veranstalter, der sich die Sensation einer Silvester-Party mitten im Jahr entgehen läßt! Das ist ein unerwartet zaghafter Beginn der gesamtdeutschen Währung.

Da scheinen die wenigen Menschen, die dennoch gelieben sind, fast standhaft zu sein. Wieviel Ausdauer gehört doch dazu, sitzen zu bleiben, während die Reinigungsfahrzeuge bereits über den Platz fahren. Auch einige Männer in Arbeitskleidung sind schon damit beschäftigt, Bänke zusammenzuklappen und die Seitenbahnen des blau-weißen Zeltes zuzuknöpfen. Und dann der Mann mit dem kahlen, bleichen Schädel und dem genauso bleichen Arbeitskittel, einen Rentner hat man also eingestellt, und er schiebt und zerrt jetzt umständlich einen Kübel an eine öffentliche Mülltonne heran. Mit bloßen Händen nimmt er Pappbecher und Plastikgeschirr aus dem Kübel, verschmierte Teller und Schüsseln, aus denen die Reste einer Erbsensuppe tropfen, alles nimmt er und stopft es in die Mülltonne. Er scheint sich sehr darauf konzentrieren zu müssen, denn keine Sekunde wendet er den Blick von der Arbeit, die ihm nur langsam von der Hand geht.

Wie spät ist es jetzt? Noch fast eine halbe Stunde bis zwölf. Als eines der Gerüchte dieser Stunden kursiert übrigens die Geschichte des „Dresdner Hofs“ unter den letzten Gästen. Dieses Luxushotel ist zugleich eines der architektonischen Prunkstücke der Stadt; erst vor Monaten wurde es fertiggestellt, und nun heißt es plötzlich, mit Beginn der Währungsunion werde es pleite sein. Das mag am Nebentisch natürlich keiner glauben — der „Dresdner Hof“? Niemals! Es fällt dem Mann, der mit gerecktem Hals und angeschwollenen Wangen an diesem Gerücht arbeitet, allerdings nicht schwer, seine Zuhörer zu überzeugen. Man braucht sich doch nur einmal die Schulden anzusehen! Da ist dieses Hotel von einer schwedischen Firma für dreihundert Millionen D-Mark gebaut und von der alten Regierung zum Kurs eins zu acht in Ostmark belastet worden. Das Hotel ist demnach mit fast zweieinhalb Milliarden verschuldet. Allerdings hätte es sich seine Deviseneinnahmen auch zum Kurs von eins zu acht berechnen lassen können, denn der Devisen wegen ist es ja gebaut worden.

„Heute allerdings“, sagt der Mann und hebt den Zeigefinger, „heute nacht wird aus den Devisen unsere Währung. Und die Schulden stellt man wieder in D-Mark um, aber diesmal im Verhältnis von zwei zu eins.“ Die Leute am Tisch haben sofort begriffen: Da ist dieses für 300 Millionen DM gebaute Hotel nun über Nacht mit der astronomischen Summe von 1,2 Milliarden DM verschuldet, und wer soll das jemals bezahlen? Ja, so ist das also.

Und der Mann scheint noch mehr über den abrupten Wechsel des Glücks zu wissen. Er weiß zum Beispiel, daß es schon lange ein Restaurant namens „Dresdner Hof“ gibt, und auch, daß dessen Besitzer sich über die Namensgleichheit des neuen Hotels immer beschwert hatte. Denn seit Monaten rennt er täglich zwanzigmal zum Telefon, nur weil irgendwer im anderen „Dresdner Hof“ ein Zimmer reservieren will. Früher, ja früher, hat man diesen Gastwirt mit Drohungen nach Hause geschickt, aber mit dem neuen Geld wird auch das neue Recht kommen! Und dann wird man mit einstweiligen Verfügungen gegen den neuen „Dresdner Hof“ vorgehen können. Und dann? Nun, man wird dem Mann seinen traditionellen Namen abkaufen müssen, und zwar für mindestens eine Million. Ja, dieser einfache Gastwirt wird in der kommenden Nacht zu einem reichen Mann. So sehen es jedenfalls die Leute am anderen Tisch. Sie seufzen leise, während sie unter der Bank nach den Einkaufstaschen greifen, in denen sie ein paar Flaschen mitgebracht haben. Von zu Hause Bierflaschen mitzubringen, um damit die Bierkrüge nachzufüllen, daran haben sie alle gedacht. So hat man es schon immer gemacht, denn das ist im Zweifelsfall die billigste Lösung. Ach, wenn man nur sonst etwas mehr Glück hätte!

Ein paar gute Verbindungen würden schon reichen. Mit ein paar Verwandten aus dem Westen hätte man von langer Hand vorbereitet mit Ostmark spekulieren können. Du brauchst nur die richtigen Leute, mit denen gründest du eine Scheinfirma oder läßt dir morgen das Betriebskapital in D-Mark umbuchen. Oder noch einfacher: Ab Montag brauchst du nur für eine Weile mit Gebrauchtwagen zu handeln. Morgens im Westen für 4.000DM gekauft, abends im Osten für 8.000DM wieder verkauft, das macht ungefähr 100.000DM im Monat, hunderttausend, und kein Finanzamt kommt dahinter. Ja, das hätte man alles machen können, wenn man früh genug daran gedacht hätte. Oder wenn man ein bißchen jünger wäre — und wenn man keine Familie hätte, denn für so etwas muß du beweglich sein.

So spinnen sie den Faden zukünftiger Legenden. Einen Schatz finden— mit einem Schlag reich werden. Mit einem Schlag ein reicher Mann sein. So, als könnte man selbst in mittleren Jahren noch einmal das eigene Leben zurückgeben, um ein neues zu erhalten. Plötzlich scheint einem das Leben, das man immer geführt hat, gar nicht zu gehören. Offensichtlich hat man sich lediglich eine Weile mit einem unpassenden Exemplar herumgeplagt. Aber das ist jetzt vorbei.

Da haben Ost und West nun seit vierzig Jahren daran gearbeitet, den Zufall zu bändigen. Daß es nur an der eigenen Leistung liege, was aus einem wird, das haben sie beide betont. Eine Ordnung für Ausgeglichenheit: keine Störung, keine Exzesse, von der Lotterie abgesehen, aber die beschert das Glück ja nur den einzelnen. Jetzt aber, beim Zusammenbruch dieses Systems, ereignet sich eine unkontrollierte Kettenreaktion des Glücks oder Unglücks, und ein ganzes wiedervereintes Volk experimentiert mit dem Ausstieg aus jeder Art von Kausalität. Das gleicht einer massenhaften und verschwiegenen Subversion: und niemand kann mehr verstehen, daß er jemals gearbeitet hat, um sein Geld zu verdienen.

Wie viele Leute jetzt, drei Minuten vor zwölf, wohl noch auf dem Platz sind? Vielleicht fünfhundert. Unter den Arkaden stehen auch einige Gruppen. Beim Countdown der letzten Sekunden fehlt allerdings eine orientierende Hand. Da lassen die einen bereits ihre Knallkörper explodieren, während man am Nachbartisch gerade erst die 20 überschritten hat: 19... 18... 17...

Allmählich beginnt ein etwas unschlüssiger Freudentaumel. Die Leute, die noch an den Tischen sitzen, stehen auf, heben die Biergläser, einige stellen sich auf die Bänke. Auch explodieren inzwischen immer mehr Feuerwerkskörper. Dann beginnen Autofahrer, zu hupen und sich zu einem Konvoi zu formieren. Man kurbelt die Fenster herunter und streckt die Deutschlandfahnen heraus. Aber auch hier fehlt die Regie. Nichts ist koordiniert. So fährt man bald in unterschiedliche Richtungen auseinander.

Ein paar Meter weiter stehen einige Frauen auf den Bänken, sie wollen feiern, wissen aber nicht recht, was sie sagen oder rufen sollen. Was wünscht man sich in einer solchen Situation? Man kann sich ja schließlich kein „gutes neues Jahr“ wünschen. Und immer nur „Prost“ zu rufen oder allenfalls noch „Deutschland, Deutschland“ ist doch zu wenig. Also, was soll man tun, ohne Formel und ohne Ritual?

Die beiden Jugendlichen, die hinter mir stehen: Als ich mich umdrehe, sehe ich sie flüstern und grinsen und schließlich einen Knallkörper zu einigen Frauen hinüberwerfen. Er verfängt sich im Haar zweier eng beieinanderstehender Frauen und explodiert. Die beiden erschrecken sich. Man sieht ihr Gesicht entgleisen, während sie sich zu setzen versuchen. Die beiden Jugendlichen haben sich sofort weggedreht und scheinen selbst erschrocken zu sein. Unterdessen reiben sich die Frauen das Ohr, sie klopfen mit der Hand dagegen, dann neigen sie den Kopf zur Seite und bohren mit dem Finger in den Gehörgängen, wie man es beim Abtrocknen nach dem Schwimmen macht. Aber der Schmerz und die Taubheit sind keine Wassertropfen, die man einfach herausschütteln kann. Und die Männer, die neben den Frauen am Tisch sitzen? Sie scheinen den Zwischenfall als ein Versehen zu werten, jedenfalls lachen sie ein wenig und unterhalten sich weiter.

Offensichtlich sind auch die Frauen bereit, das Ganze als ein Mißgeschick zu verstehen — als ein Mißgriff im Zuge der allgemeinen Euphorie und Verbrüderung. Sie versuchen, ihr entgleistes Gesicht neu zu ordnen, um ein solidarisches Lächeln aufzusetzen, denn man muß doch zusammenhalten. Jetzt, wo die Einheit so nah ist.

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