: Carlsson in der Zielgeraden
Schweden liefert heute sein EG-Beitrittsgesuch ab/ Nach langem Nein ein überstürztes Ja zu Brüssel ■ Aus Stockholm Reinhard Wolff
Wenn heute Schwedens Ministerpräsident Ingvar Carlsson den Antrag auf Aufnahme seines Landes in die EG stellt, wird damit Realität, was er noch vor zwei Jahren als absolut undenkbar abgetan hat. EG-Mitgliedschaft? Mit der Neutralitätspolitik des Landes unvereinbar, hieß es damals, von den anderen Gefährdungen des „schwedischen Modells“ durch die Brüsseler Gleichmacherei ganz zu schweigen.
Nachdem sich Stockholm 1957 gegen die EWG und für die Efta entschieden hatte und Olof Palme 1971 eine Anfrage aus Brüssel, ob Schweden nicht doch Mitglied werden wolle, abschlägig beschieden hatte, war die EG fast 20 Jahre kein Thema mehr. Was nicht bedeutete, daß die wirtschaftlichen Beziehungen nicht kräftig ausgebaut worden wären. Ein Freihandelsabkommen wurde geschlossen, und die wichtigsten Außenhandelspartner Schwedens waren Mitglieder der EG. Zwischenzeitliche zaghafte EG-Diskussionen scheiterten aber stets am angeblichen Knackpunkt: der Neutralitätspolitik. Aus diesem Grunde lehnte der Reichstag zuletzt 1988 den Weg nach Brüssel ab.
Im Sommer letzten Jahres kam dann die Wende: Ingvar Carlsson öffnete zaghaft die Tür. „Sollte die EG wirklich den Weg hin zu einer gemeinschaftlichen Außen- und Verteidigungspolitik einschlagen, gibt es für uns keine Möglichkeit einer Mitgliedschaft.“ Zuletzt fiel auch diese Einschränkung: Den einst als unumgänglich angesehenen „Neutralitätsvorbehalt“ — ein solcher ist im Antrag Österreichs beispielsweise enthalten — wird es in dem Beitrittsantrag nicht geben.
Das „Verschwinden der Blockgrenzen in Europa“ ist nach Carlssons eigener Erklärung der Grund für diesen atemberaubend schnellen Umschwung. In den Augen der EG- GegnerInnen sind die Umwälzungen in Osteuropa jedoch nur ein Vorwand gewesen. Nicht der Fall der Mauer in Berlin, sondern die einheimische Wirtschaftsentwicklung sei Grund für den Kurswechsel. Seit Mitte der achtziger Jahre hat sich die schwedische Industrie zusehends nach „Kontinentaleuropa“ orientiert. Dem Druck der Industrie und der ihr nahestehenden konservativen Opposition folgte bald der seitens der Gewerkschaften auf „ihre“ sozialdemokratische Regierung. So erklärte Christian Bratt, Direktor beim schwedischen Arbeitgeberverband SAF: „Seit spätestens 1987 war das Ziel EG-Mitgliedschaft klar. Aber wir mußten warten, bis Sozialdemokraten und Gewerkschaften soweit waren.“ Ohne Mitgliedschaft, bekräftigt er, „stehen unsere Konzerne vor der Tür“. Und „die Mitgliedschaft wird auch eine nützliche Disziplinierung für die Politiker sein“.
„Disziplinierung“ gleich Abschied vom vielbeschworenen „schwedischen Modell“? Nicht für Außenhandelsministerin Anita Gradin, die die EG für ein „linkes Projekt“ hält. „Das Kapital hat das vereinte Europa schon geschaffen. Die EG wird es für die Menschen bauen.“ Offensiv gibt sich auch die EG-Kampagne der Sozialdemokraten unter dem Motto „Die sozialdemokratische Gemeinschaft“. Der fast ausnahmslos positive Propagandachor — nur Grüne und Linkspartei sind strikte EG-Gegner — zeigt Wirkung: Eine klare Mehrheit der SchwedInnen stützt ihre Regierung auf dem Weg nach Brüssel.
Der Soziologe Ronny Svensson warnt jedoch, eine EG-Mitgliedschaft bedeute auf jeden Fall das Abschiednehmen von einem zentralen Punkt des schwedischen „Modells“: dem — nahezu vollständigen — Fehlen von Arbeitslosigkeit. Während die Gewerkschaften sich zu EG-Befürworterinnen wandelten, weil sie sich eine Sicherung von abwanderungsbedrohten industriellen Arbeitsplätzen versprechen, machen ForscherInnen wie Svensson eine andere Rechnung auf: Was im öffentlichen Sektor aus Geldmangel bald zwangsläufig an Arbeitsplätzen wegbrechen werde, könne im privaten Sektor nicht aufgefangen werden. Anders als in nahezu allen anderen westeuropäischen Ländern ist das Sozialsystem Schwedens nicht nachrangig aufgebaut, greift also nicht erst, wenn das familiäre Netz gerissen oder unzureichend ist: JedeR hat von vornherein das Recht auf öffentliche Sozialleistungen, die darüber hinaus in weiten Bereichen noch vorbildlich ausgebaut sind. Ein teures System, berücksichtigt man auch noch, daß Schweden die älteste Bevölkerung Europas hat. Ein System, daß nur über die hohen Einkommenssteuern (54 Prozent gegenüber dem EG-Schnitt von 40 Prozent) und eine rekordhohe (25 Prozent) Mehrwertsteuer finanzierbar ist. Mittelfristig ist eine Konkurrenzfähigkeit des Landes in Produktion und Handel nur bei einer Angleichung an die EG — insbesondere an die deutschen Steuersätze — denkbar. Wo dann die Staatsausgaben gestrichen werden müssen, steht jetzt schon fest: bei den Sozialleistungen.
Auch wenn die in den letzten Jahren verfolgte Wirtschaftspolitik Schwedens es zusehends unwahrscheinlicher macht, daß sich das Land seinen sozialpolitischen „Luxus“ — und seinen unnötig aufgeblähten öffentlichen Sektor — mit oder ohne EG noch lange leisten kann: Mit der EG und vor allem dem jetzt vorgelegten Tempo Richtung Brüssel ist der Abbruch des „schwedischen Modells“ festgeschrieben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen