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Verspätet an die Gewehre

■ 250 WehrpflichtgegnerInnen versuchten am Bahnhof mit „mobiler Kriegsdienstverweigerer-Beratung“ mit angehenden Soldaten zu reden

Berlin. WehrpflichtgegnerInnen haben am Montag zehn Minuten lang einen Intercity-Zug im Berliner Hauptbahnhof blockiert. Der nach Karlsruhe fahrende Zug sollte 600 Berliner Rekruten, darunter 100 „Wehrflüchtlinge“, in Kasernen in den alten Bundesländern bringen. Bundesweit wurden 56.000 junge Männer einberufen. Polizei und Bundesgrenzschutz trugen knapp ein Dutzend Demonstranten von den Schienen. Unter ihnen auch die Bundestagsabgeordnete der PDS/Linke Liste, Jutta Braband. Wehrdienstgegner verzögerten auch die Abfahrt des IC-Zuges „Kaiserstuhl“ nach Basel für eine knappe halbe Stunde durch Ziehen der Notbremse. Die Personalien von fünf Demonstranten wurden aufgenommen, Festnahmen gab es nach Auskunft der Polizei nicht. Die DemonstrantInnen registrierten zwei vorübergehende Festnahmen.

Der Aktion „Jede Einberufung ein Skandal“ waren rund 250 Anhänger der „Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär“ und des „Freundeskreises der Wehrdienst-Totalverweigerer“ gefolgt. Mit einer „mobilen Kriegsdienstverweigerer-Beratung“ vor den Aufgängen und in der Bahnhofshalle versuchten die Veranstalter in letzter Minute mit den angehenden Soldaten zu reden, um sie über ihre Rechte aufzuklären. In den neuen Bundesländern hält sich die Einberufungspraxis oft nicht an den gesetzlichen Rahmen: Einberufungsbefehle werden verspätet abgeschickt oder kommen zu spät an, so daß Wehrpflichtige mit ihren Verweigerungsanträgen nicht die nötigen Fristen einhalten können. Auf Wehrersatzdienstämtern werden zum Teil bewußt falsche Auskünfte erteilt oder die Abgabe von Verweigerungsanträgen wird erschwert. Die Besetzung dieser Ämter mit ehemaligen NVA-Offizieren, denen zwei Westimporte vorstehen, ist keine Seltenheit. Christian Herz von der „Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär“: „Skandalös empfinden wir auch, daß alte DDR-Musterungen anerkannt werden, die Verweigerungsanträge, die zu DDRZeiten gestellt wurden, jedoch nicht.“

Die angesprochenen Rekruten reagierten zum Teil mit Unverständnis und Ablehnung auf die Aktion. Mit Sprüchen wie „Bundeswehr- Mördertruppe“ konnten sie nichts anfangen. Fünf Wehrpflichtige entschieden sich aber noch auf dem Bahnhof, den Wehrdienst zu verweigern und nicht in der Kaserne zu erscheinen. Vier wollen sofort in der Kaserne verweigern. Wie viele sich nach der Lektüre der Flugblätter und den Gesprächen zu diesem Schritt entscheiden, bleibt offen.

Jutta Braband äußerte sich zu der Aktion der Wehrdienstverweigerer: „Viele der ostdeutschen Wehrpflichtigen sind von den verantwortlichen Stellen überhaupt nicht über ihre Rechte informiert worden. Auf die ,DDR-Gewohnheit‘, sich nicht aktiv für seine Rechte einzusetzen, wurde nicht genügend reagiert. Um dagegen zu protestieren, bin ich hier auf dem Bahnsteig.“

Oberstleutnant Christian Thomale von der Standortkommandantur Berlin hielt dem entgegen: „Die Entscheidung zum Dienst in der Bundeswehr ist Sache des einzelnen. Jeder Bürger hat die Pflicht, sich über seine Rechte zu informieren. Tut er dies nicht, muß er auch die Konsequenzen tragen. Selbst in der Kaserne besteht die Möglichkeit, vom Recht auf Kriegsdienstverweigerung Gebrauch zu machen. Dort muß mit dem Ausbildungskompaniechef über solche Fragen gesprochen werden.“

Kommentar der Veranstalter: „Der heutige Tag hat gezeigt, wie notwendig antimilitärische Aufklärungsarbeit ist und mit welchen katastrophalen Machenschaften die Bundeswehr versucht, ihr Kanonenfutter zu sammeln.“ Thomas Voit

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