: Vogelzug: Geben Gene die Flugrouten vor?
Im Vogelzug wollen WissenschaftlerInnen der Vogelwarte Radolfzell in Möggingen jetzt die Gene als Wanderkarte gefunden haben. Die VogelkundlerInnen (OrnithologInnen) kreuzten deutsche und österreichische Mönchsgrasmücken (Sylvia atricapilla) miteinander. Der Vogel mit der dunklen Kappe auf dem Kopf, der seinen plaudernden Gesang in Park- und Gartenanlagen zum besten gibt, fliegt im Herbst nach Südwesten und verbringt den Winter in Südeuropa. Sein österreichischer Verwandter jedoch fliegt im Herbst bis nach Südeuropa, schwenkt dann in einem Winkel von 50 Grad Richtung Süden ab und beendet seine lange Reise im Norden Afrikas.
Die Kreuzungsnachkommen, so zeigte sich, legen ihre Wanderroute haargenau in die geographische Mitte. Sogar die Hälfte des österreichischen Schlenkers nach Süden wurde vererbt. Weitere Experimente der Radolfzeller Vogelwarte legen nahe, daß auch der Wanderimpuls selbst genetische Ursachen haben könnte. Die Mögginger WissenschaftlerInnen beobachteten die Grasmücken nicht in der freien Natur, sondern im Labor. Jede „Mücke“ bekam ihr eigenes Apartment. Einzeln deshalb, weil jeder Vogel auf sein individuelles Zugverhalten geprüft werden mußte. Als Maß für dieses Verhalten griffen die OrnithologInnen zu folgendem Trick: Sie versahen die Sitzstangen mit Sensoren, die jeden Hüpfer der Vögel aufmerksam registrierten. Ergebnis der Messungen: Den eingesperrten Vögeln juckt es kräftig in den Füßen, wenn der Wandertrieb sie überkommt. Sie hüpfen in ihrem Käfig auf und ab und zwar in dieselbe Richtung und über etwa dieselbe Zeit, die ihr Flug benötigen würde, wenn sie frei wären. Die „Hüpfaktivität“ legten die BiologInnen als Wanderlust aus. Dabei haben sie sogar beobachtet, daß Vögel, die unterwegs einen Kurswechsel vornehmen müßten, auch im Käfig auf den Tag genau die Flatterrichtung wechseln.
Welche und wieviele Gene den Vogelzug auslösen, kann bisher noch niemand sagen. OrnithologInnen befürchten sogar, daß durch die sich ausdehnenden afrikanischen Dürregebiete viele Zugvögel ihr Winterquartier verlieren werden. Ob es eines Tages möglich werden sollte, durch genetische Eingriffe den Vogelzug zu manipulieren? Dann ließen sich die Vögel in Gebiete lenken, die vom Menschen noch nicht so verändert sind, daß ein Überwintern dort nicht mehr möglich ist.
Susanne Billig (s.a.GIDNr.68)
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