piwik no script img

9.000mal Lungenkrebs, 15.000mal Silikose

Ein der taz vorliegendes vertrauliches Papier für die Bonner Strahlenschutzkommission liefert erste Einblicke in die Krankendaten der Wismut-Kumpel/ Sämtliche Akten des Uranbergbau-Unternehmens bleiben bis auf weiteres Eigentum der Wismut  ■ Von Reimar Paul

Im Uranbergbau zu arbeiten, bedeutet, seine Gesundheit zu riskieren. Bei der ehemals Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft (SDAG) Wismut waren seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine halbe Million Menschen beschäftigt, die in den 40er und 50er Jahren meist ohne jegliche Schutzmaßnahmen Uran abbauten. Bis 1955 seien beispielsweise 7.000 Lungenkrebsfälle vermutet worden, die durch das radioaktive Gas Radon mit ausgelöst wurden.

In Wirklichkeit liege die Zahl viel höher, glaubt auch Bundesumweltminister Klaus Töpfer, der vor zwei Tagen Sanierungspläne für den Uranbergbau in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt vorlegte. Eine genaue Schätzzahl über die Gesamtopfer konnte er jedoch nicht nennen, da die Auswertungen noch nicht abgeschlossen seien. Töpfer sei besorgt, „daß wir noch nicht den gesamten Eisberg kennengelernt haben“, sagte er zum Thema Gesundheitsentschädigung.

Aber anders als bisher angenommen gibt es kein zentrales Wismut- Gesundheitsarchiv. Die Unterlagen, insgesamt mehrere 100.000 Akten, befinden sich in verschiedenen Archiven an unterschiedlichen Orten des Wismut-Imperiums. Das geht aus einem vertraulichen Zwischenbericht über vorläufige Ergebnisse der Datensicherung und Probleme der Datenlage und Ressourcen hervor, der bereits am 21. März 1991 in der Bonner Strahlenschutzkommission (SSK) beim Bundesumweltministerium diskutiert wurde. Dieses Papier, das der taz vorliegt, vermittelt einen ersten groben Überblick über den Umfang und den Inhalt der Wismut-Krankendaten.

Wismut räumte „nur“ 6.800 Krebsfälle ein

Es wurde von einer Autorengruppe des Meinungs- und Marktforschungsinstituts „infratest“ erstellt, ein Mitglied der SSK bestätigt die Authentizität des Papiers. Gleichzeitig mit diesem Bericht wurde eine interne Dienstanweisung aus den Chefetagen des Unternehmens bekannt, die das „Verfahren beim Umgang und der Sicherung der Patientenakten der ehemaligen Betriebsambulatorien in der SDAG Wismut“ regelt. Die brisanteste Datei trägt das Kürzel BK92 — Berufskrankheit Bronchialkarzinom. Aus der Übersicht geht herovr, daß die Wismut-Ärzte bei den Urankumpeln bis 1990 nicht weniger als 9.000 Fälle von Lungen- oder Bronchialkrebs diagnostizierten. Bisher hatte das Unternehmen „nur“ 6.800 Krebsfälle eingeräumt. 5.675 — und nicht, wie bislang verbreitet 5.100 — Fälle wurden als entschädigungspflichtige Berufskrankheit anerkannt. Die BK92-Dateien sind bei der neugegründeten Wismut-Abteilung „Gesundheitsdatensicherung“ in Chemnitz eingebunkert worden. Ein Wismut-Sprecher vermutete in der Differenz einen Schreibfehler. Ein zweites Teilarchiv mit dem Namen Ortsstatistik (ORT) wird von der Generaldirektion der Wismut ebenfalls in Chemnitz unter Verschluß gehalten. Dem infratest-Bericht zufolge enthält diese Datei eine „retrospektive Datenerhebung zur individuellen Strahlenexposition von unter Tage Beschäftigten der Wismut im Zeitraum der höchsten Strahlenexposition 1946-1955“. Leider fehlen nähere Angaben, auch die Gesamtzahl dieser Daten ist noch nicht ermittelt. Immerhin haben aber allein zwischen 1971 und 1984 30.000 Personen „Eingang“ in die Ortsstatistik gefunden.

Das Hauptarchiv Aue (HAA) liegt im gleichnamigen Ort im „Bergbaubetrieb9“ verborgen. Es enthält nicht weniger als 400.000 „personenbezogene Unterlagen im A3-Format“ — Name, Geburtsdatum, Wohnungen, Tätigkeitszeitraum aller Beschäftigten beim Bergbaubetrieb9, der insgesamt 32 Schächte und Stollen im erzgebirgischen Uranrevier umfaßt. Auch die Auszahlung eines „Erzgeldes“, Indikator für eine hohe Strahlenbelastung, ist auf den Karteikarten der davon betroffenen Personen vermerkt.

Die Datei „Arbeitsmedizinische Tauglichkeits- und Überwachungsuntersuchung“ (ATÜ) — alle Wismut-Beschäftigten wurden jährlich einer solchen Vorsorgeuntersuchung unterzogen — beinhaltet weitere 250.000 Dokumentationen. Neben den personenbezogenen Daten enthalten diese Akten auch Eintragungen unter den Rubriken Teilkörper- oder Ganzkörpervibration, „fibrinogene Stäube“, Asbest, Schweißrauche, Lösungsmittel, Lärm, Rauchgewohnheiten und so weiter. Diese Datei wiederum lagert in der Wismut-Dependance in Niederdorf.

Beginn, Ende und Dauer der Staubbelastung

Am selben Ort finden sich auch 21.000 Patientenakten mit dem Titel BK40 — Berufskrankheit Silikose. 15.000 anerkannte Staublungen und 6.000 weitere Silikoseverdachtsfälle hat es demnach im Bereich der Wismut gegeben. Den Akten sollen umfangreiche Gutachten, „im Todesfall auch Sektionsprotokolle“, beigefügt sein. Wieviele Uranbergleute an der Staublunge zugrunde gingen, steht nicht in dem Papier. 260.000 Wismut-Kumpel haben sich von 1952 bis heute einer Röntgenreihenuntersuchung (RRU) unterzogen. Konzipiert als Suchkartei für das Silikosearchiv, befindet sich die RRU-Datei ebenfalls in Niederdorf. Die Akten enthalten außer persönlichen Daten, Tätigkeitsnachweisen und den Untersuchungszeitpunkten auch Eintragungen über „Beginn, Ende und Dauer der Staubbelastung“. Bei Silikoseverdachtsfällen, so heißt es, sind auch Angaben der betreuenden Wismut-Poliklinik dokumentiert.

In der Krankenhausfallstatistik/ Wismut (KHF) ist noch nicht einmal die Menge der Akten bekannt. Auf Krankenblatt-Vordrucken, „für moderne PCs nicht lesbar“, haben die Ärzte in den Wismut-Krankenhäusern Operationsdaten und -verläufe notiert, Diagnosen erstellt beziehungsweise vermerkt, ob ein verstorbener Patient obduziert oder nicht obduziert wurde. Standort der KHF-Datei: Niederdorf.

Über „Rehabilitationsmaßnahmen erkrankter Wismut-Mitarbeiter“ informiert die im selben Archiv lagernde REH-Datei. Diese Akten sind gleichfalls noch nicht einmal in Ansätzen ausgewertet. Auf die 21 ehemaligen Betriebsambulatorien der Wismut verteilt ist eine noch unbekannte Zahl von Patientenakten (PAT). Immerhin: Von der Generaldirektion des Uran-Bergbau-Unternehmens „wird zur Zeit eine Zentralisation vorbereitet“.

Die in dem Papier an letzter Stelle aufgeführte ORG-Datei dokumentiert Organproben obduzierter Bergarbeiter mit Bronchialkarzinom. Die Menge ist noch nicht ermittelt, die Protokolle und Organproben sollen sich zum größten Teil im Bergarbeiterkrankenhaus Stollberg befinden.

Betriebsbeauftragte für die Sicherung der Akten

Zum 18. März ist eine vom stellvertretenden Wismut-Generaldirektor Pochandke unterzeichnete Anweisung in Kraft getreten, in der „Sicherung“ und Zugriffsmöglichkeiten auf die Patientendateien geregelt sind. Sämtliche Akten, einschließlich der Röntgenfilme, bleiben demnach bis auf weiteres Eigentum der Wismut. In jedem Betrieb des Unternehmens ist ein „Beauftragter für die Sicherung“ ernannt worden, der „eng mit dem Betriebsarzt zusammenarbeiten“ soll.

Niedergelassenen Ärzten, Krankenhäusern oder Gesundheitsämtern dürfen die Akten nur in Ausnamefällen und bei „Zustimmung des betreffenden Bürgers“ überlassen werden — und das auch nur „in kopierter Form“. Unterlagen, die Aufschluß über den Krankheitsverlauf der bereits gestorbenen Uranbergleute geben könnten, bleiben in ausschließlicher Verfügungsgewalt der Wismut.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen