: Ein nicht abgeschickter Brief
■ Hans Christoph Buch schreibt an Stefan Heym
Berlin, im Juni 1991
Werter Stefan Heym,
so redete man sich zu meiner Zeit als Berliner VS-Vorsitzender unter Gewerkschaftskollegen an. Damals setzte ich mich für Sie und andere von der SED gemaßregelte Autoren ein und wurde dafür, zusammen mit meinen Westberliner Freunden, vom Bundesvorstand des VS als „kalter Krieger“ diffamiert. Mit der Spitze dieses Verbandes, der nicht nur für Sie und Ihresgleichen nichts getan, sondern jahrelang als Erfüllungsgehilfe des DDR-Schriftstellerverbands fungiert hat, mit der Spitze dieses Verbandes haben Sie vor kurzem in Travemünde konferiert. Ich zögere, an dieser Stelle das Wort Schriftstellerkongreß hinzuschreiben, denn Sie waren der einzige namhafte Schriftsteller, der der Einladung des VS gefolgt ist und dort gesprochen hat. Meine Kritik gilt nicht so sehr dem, was Sie in Travemünde gesagt haben, als vielmehr dem, was Sie dort nicht gesagt haben, bzw. der Tatsache, daß Sie überhaupt vor diesem Forum gesprochen haben.
Wie hätten Sie reagiert, werter Stefan Heym, wenn sich ein westdeutscher Autor von Rang, sagen wir Günter Grass, nach Ihrem Hinauswurf aus dem Schriftstellerverband der DDR mit dessen Funktionären solidarisiert hätte? Genau das haben Sie getan. Durch Ihren Auftritt in Travemünde haben Sie sich als literarisches Feigenblatt mißbrauchen lassen von einem Verband, der schon lange das Recht verwirkt hat, im Namen der deutschen Schriftsteller zu sprechen. Und durch Ihre öffentlich erklärte Bereitschaft, auch politisch belastete Autoren aus der DDR, d.h. ehemalige Zensoren, in den Verband aufzunehmen (mit der unappetitlichen Begründung, nicht der Mundgeruch entscheide über die Zulassung zu einer Gewerkschaft), tragen Sie zur neuerlichen Vertuschung einer Vergangenheit bei, deren ernsthafte Aufarbeitung noch nicht einmal begonnen hat.
Gibt es Ihnen nicht zu denken, daß die meisten Schriftsteller, die das Bild der deutschen Literatur in der Öffentlichkeit prägen, in den letzten Jahren aus dem VS ausgetreten sind? Ich nenne nur, stellvertretend für viele, die Namen Günter Grass, Helga M. Novak, Friedrich Christian Delius, Peter Schneider und Guntram Vesper. Andere, wie Peter Härtling, Günter Wallraff und Gabriele Wohmann, sind zwar formell Mitglieder des Verbands, bekunden diesem jedoch durch demonstratives Fernbleiben seit Jahren ihr Desinteresse. Wieder andere, vielleicht die klügeren, sind gar nicht erst in den VS eingetreten: Hans Magnus Enzensberger, Sten Nadolny und Botho Strauß zum Beispiel, oder die unter Mitwirkung des dortigen Schriftstellerverbands aus der DDR herausgeekelten Autoren: Peter Huchel, Reiner Kunze, Hartmut Lange, Jurek Becker und Sarah Kirsch — um nur diese wenigen Namen zu nennen: Eine vollständige Liste der aus VS und/oder SV ausgetretenenn und/ oder ausgeschlossenen Schriftsteller ergäbe einen Who Is Who? der deutschen Gegenwartsliteratur.
Sie könnten mir entgegenhalten, daß es unfair ist, einen von einer Staatspartei (und der Stasi als deren verlängertem Arm) gelenkten und kontrollierten Schriftstellerverband mit einer freien Gewerkschaft auf eine Stufe zu stellen. Sie mögen recht haben, aber ich halte die Parallele trotzdem aufrecht, und zwar nicht nur deshalb, weil der VS im Umgang mit den aus der DDR abgeschobenen Autoren das nötige psychologische Fingerspitzengefühl vermissen ließ (so als hätten diese sich Verfolgung und Zensur bloß eingebildet), sondern weil er die gewerkschaftliche Solidarität einer falsch verstandenen Diplomatie geopfert hat, die auf Komplizenschaft mit der Zensur hinauslief. Das Ganze war kein bloßer Lapsus: Die politische Blindheit des VS war ideologisch motiviert. Aus Gründen, die ich hier nicht im einzelnen darlegen kann, ist es einer gewissen 0,5-Prozent-Partei, die zu keiner Zeit die Mehrheit der westdeutschen Schriftsteller repräsentiert hat, gelungen, über Jahre hinweg leitende Funktionen im Verband zu besetzen und Kritiker des Status quo politisch ruhig zu stellen; wer das diplomatische Stillhalteabkommen durchbrach, wurde als Ruhestörer disqualifiziert: „Nur so kam die Einigkeit zustande, und die schlimmsten Schreier sind endgültig aus dem Rennen“, schrieb Bernt Engelmann in einem in den Archiven des DDR-Verbands entdeckten Brief (vom 6. Oktober 1987) an seinen Duzfreund Hermann Kant.
Inzwischen haben sich die Anhänger der 0,5-Prozent-Partei vom Saulus zum Paulus gewandelt. Einer, der die Agitprop-Trommel sonst immer am lautesten rührte, vergießt jetzt Krokodilstränen über die Unmenschlichkeit der Mauer im Feuilleton der 'FAZ‘; ein anderer, der auf dem VS-Kongreß in Saarbrücken die polnische Solidarność mit der SA verglich, legte in Travemünde ein peinliches Schuldbekennntis ab. Die Rattenfänger von gestern wollen plötzlich Verführte gewesen sein.
Sie haben recht, werter Stefan Heym, wenn Sie sagen, daß es schwer ist, „keine Satire zu schreiben, wenn man das Verhalten der Menschen nach der sogenannten Wende und nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten beobachtet“. Auch bei Ihrer Klage über ein Westberliner Gericht, das Ihre Verurteilung wegen Devisenvergehens in der DDR nachträglich für Rechtens erklärte, haben Sie mich auf Ihrer Seite. Anders ist es, wenn Sie über die Mitarbeiter der Treuhandanstalt urteilen: „Welch großartiges Sujet — ganz abgesehen von der Ermordung ihres Chefs, dieses Großunternehmen, das, was einst an DDR-Vermögen vorhanden, in andere, vorgeblich berufenere Hände überführt und dabei hunderttausende, wenn nicht Millionen Menschen entwurzelt! Man bräuchte, meine ich, mehrere Balzacs, um die Geschäfte, die da getätigt werden, und die Typen, die sie tätigen, adäquat darzustellen...“
Ich mag es nicht, wenn andere Leute, ob sie mir sympathisch sind oder nicht, als „Typen“ verunglimpft werden, und wenn die Erschießung eines Menschen mit einem Präzisionsgewehr als „großartiges Sujet“ bezeichnet wird. Ich bin genauso allergisch gegen die Verharmlosung wie gegen die Verherrlichung von Terror oder Mord, ob das Opfer nun Schäuble heißt oder Rohwedder; und unabhängig davon, was für soziale Fehlentwicklungen die Treuhand zu verantworten hat, empfinde ich keine klammheimliche Freude dabei. Bei ihrer Beschreibung der „Männer mit Pokergesichtern“, die, „in Konferenz versammelt oder an einer Bar“, das Volkseigentum der DDR verhökern, befinden Sie sich nicht mehr in Gesellschaft von Balzac, sondern in Karl Eduard von Schnitzlers schwarzem Kanal, aus dem auch die folgenden Sätze stammen könnten: „Jeder in Deutschland kann sich an der nächsten Ecke die Zeitung seiner Wahl kaufen und daraus jede ihm gefällige Botschaft, die dümmste sogar, entnehmen, und auch der Ost-Autor kann, aller Verpflichtungen (...) ledig, endlich nach Herzenslust seine L'art-pour-l'art- Gelüste leben, ganz wie es im Westen schon lange üblich. Hurra für das endlich erreichte Einheits-Utopia der Freiheit und der D-Mark.“
Ich fürchte, diese grobschlächtige Karikatur ist ernstgemeint, denn ich hege seit einiger Zeit den Verdacht, daß es selbst Kritikern der ehemaligen DDR schwerfällt, sich von liebgewordenen Propagandaklischees zu trennen: Der realexistierende Sozialismus wurde zu Grabe getragen, aber das Feindbild Bundesrepublik lebt in den Köpfen weiter.
Auch dafür lieferte Ihre Travemünder Rede die unfreiwillige Bestätigung, wo von der „Suche nach der heilen Welt“ die Rede ist, die Generationen von Menschen dazu getrieben habe, „das Abenteuer des Sozialismus zu versuchen“. Als Sie bald nach Stalins Tod die Sowjetunion besuchten und sich durch Vorsprache im Justizministerium persönlich davon überzeugten, daß es dort keine Straflager für politisch Andersdenkende und Gewissenshäftlinge gab — ware Sie da auch auf der Suche nach der heilen Welt? „Keines von den Delegationsmitgliedern sah auch nur ein einziges Arbeitslager, dafür wird aber jeder sagen, daß es in der Umgebung von Kiew viele Obstgärten gibt“, hieß es in Ihrem Reisebericht mit dem lustigen Titel Keine Angst vor Rußlands Bären, der 1955 auch in der Bundesrepublik erschien. Gibt Ihnen Ihr damaliger Irrtum nicht zu denken? Sind Sie immer noch auf der Suche nach der heilen Welt?
Offenbar ja, denn — wie Sie in Travemünde einem Fernsehjournalisten erklärten — das Schlimmste am Zusammenberuch der DDR ist in Ihren Augen, daß dadurch die Idee des Sozialismus diskreditiert worden sei. Tut mir leid, aber ich kann daran nichts Schlimmes finden. Eine Theorie diskreditiert sich selbst, indem sie in der Praxis nicht funktoniert. Schlimmer, als wenn eine Idee Schiffbruch erleidet, finde ich es, wenn Menschen im Namen einer Idee kaputt gemacht oder zugrunde gerichtet werden. Allen bis heute unbelehrten Anhängern real existierender Utopien empfehle ich deshalb, Kants kleine Schrift Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis nachzulesen, aus der ich an dieser Stelle gern zitieren würde. Aber ich will es bei der Drohung bewenden lassen.
Beste Grüße
Hans Christoph Buch
P.S. Wäre es unter den gegebenen Umständen nicht besser, die deutschen Schriftsteller würden einem Verband, der seine Glaubwürdigkeit verloren hat, den Rücken kehren und sich auf das besinnen, was ihren Beruf von dem anderer Leute unterscheidet: die Arbeit am Text? Wie so etwas funktionieren kann, hat die „Gruppe 47“ vorgemacht: ein demokratischer Zusammenschluß von Autoren, der ohne Eintragung ins Vereinsregister, ohne Mitgliedsbeiträge, Satzung und Vorstand auskam und trotzdem zwanzig Jahre lang literarisch und politisch gewirkt hat. Im Mittelpunkt stand dabei das, was Schriftsteller über alle ideologischen Gräben hinweg verbindet, die Neugier darauf, was der oder die andere schreibt. Die Lust an der Literatur, angespornt durch Kritik und Konkurrenz, ist ein verläßlicheres Fundament als gemeinsame sozialpolitische Interessen, die, wie die Geschichte lehrt, meist nur von kurzer Dauer sind: Vielleicht hat deshalb ein lockerer Freundeskreis wie der „Tunnel über der Spree“ mit sechzig Jahren länger existiert als jeder andere Autorenverband, und das Modell der „Gruppe 47“ ist auch heute noch aktuell.
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