: Spanferkel der Nation
■ Das Freilichtgroßspektakel »La Véritable Histoire de France« auf dem Marx-Engels-Platz
Paris war seit fünf Uhr morgens unter Waffen. Man hörte den Generalmarsch trommeln; das Klirren der Waffen, das Getrappel der Pferde, den Transport der Kanonen, die unaufhörlich aufgefahren und wieder umplaziert wurden. Um neun Uhr wurde der Lärm stärker, krachend öffneten sich die Tore. Bei dieser Unruhe kam der König aus seinem Kabinett. »Sie kommen, um mich zu holen?« »Ja.«
Mitten auf dem Marx-Engels- Platz, zwischen Maschinen und Kanonen, nervösen Truppen und nicht minder nervösen Hinrichtungskandidaten, liegt ein Buch. Und kurz ist die wahre Geschichte Frankreichs, ganze zwölf Seiten umfaßt das Buch seiner dramatischen Geschichtsschreibung. Dafür ist es um so voluminöser und nur mit einem gewissen technischen Geschick zu handhaben. Jeder seiner Seiten ist 24 bis 28 Quadratmeter groß und wiegt ganze 300 Kilogramm. Macht acht Tonnen französische Geschichte. Und dreidimensional und schöner als in jeder Oper (weil unter freierem Himmel) entfaltet sich in der Folge ein jedes Blatt vor den Augen des entzückten Publikums. Das Buch ist alles in einem: Bühne, Kulisse und Geschichte zugleich. Gedankenarm (Französischkenntnisse nicht vonnöten!), dafür aber um so tatenreicher läßt auf Einladung der UFA-Fabrik die französische Theatergruppe »Royal de Luxe« zwischen des Seiten des Buches prominente Vertreter der französischen Historie hervorkriechen, ziemlich blutrünstig und vor allen Dingen hochgradig geladen von der ersten bis zur allerletzten Minute, wenn die Zuschauer schließlich süße Pulverdämpfe inhalierend mit rauchgeschwärzten Gesichtern auf dem Platz hocken und die Senatorengattinnen auf Honeckers altem Wink- und Jubelbalkon sich die schwarzen Krümel aus den Abentoiletten kämmen. (Denn Theater ist schöner als Krieg!) Seit 1979 hat die in Toulouse gegründete Truppe »Royal de Luxe« auf allen Kontinenten mit ihren Spektakeln Furore gemacht. 1990 hatte La Véritable Historie de France beim Theaterfestival von Avignon vor 15.000 Besuchern seine Premiere. In Berlin trat die Compagnie am Freitag und Samstag auf Einladung der UFA- Fabrik Tempelhof und mit Unterstützung des französischen Außenministeriums, des Berliner Kultursenators und der französischen Streitkräfte auf.
Ohne Zweifel arbeiten die Schauspieler (»keine Schauspieler, sondern eine 26köpfige Sensation«, wie der Beipackzettel verrät) unter Aufbietung aller ihrer Kräfte. Die strammen Jungs jedenfalls, die mit Hilfe einer Winde die Blätter des monströsen Geschichtsbuches wenden, machen, was ihre Kondition anbelangt, ihren guillotinierenden Vorfahren alle Ehre. Angekündigt als ein »Großangriff auf die Sinne mit Bildern und Szenen« hält die exzellent durchgetimte Show so ziemlich alles, was sie verspricht. Kaum Zeit zum Lufttholen bei diesem rasanten Tempo, mit dem schon ein Trupp mechanisierter Gallier den Schauplatz stürmt, (Die spinnen, die Franzosen!), einer der unzähligen französischen Ludwige elegant perückt den roten Teppich beschreitet, die Aufführung einer Oper zu genießen, in deren Verlauf sich die Waffenschmiede der Nation kunstvoll gegenseitig hinmessern, bis schließlich Pachelbels Altweiberkanon versöhnend und feierlich den Platz beschallt, während Jenny die Große, rotbeschuht und mit possierlichem Bubikopf bekrönt, im heimatlichen Domremy die Schafe hätschelt und staubsaugend den Haushalt in Ordnung hält. Aber wehe, schon nahen zwei mechanisch beflügelte Englein, den ländlichen Frieden zu stören, und rufen mit einem schicksalsschwangeren Telegramm in die Schlacht, worauf sich Jenny umgehend in die Rüstungsklamotte wirft und mit Hilfe der strammen Jungs und Schuhe um sich schleudernd jede Festung stürmt. Da der Gang der Geschichte aber nun mal keine Dankbarkeit kennt, wird sie gleich darauf als Spanferkel der Nation über einem pappflammenden Grill unter dem Abspielen volkstümlicher Weisen zu Tode geröstet. Denn heiß ist die Geschichte Frankreichs, und rot sind die Mützchen der Sansculotten, und schwer sind die Äxte, mit denen sie freistehende Türen einhacken, um schließlich den hinter seiner Tapete kauernden König dingfest zu machen.
Obwohl »rund 30 verschiedene, geheimnisvolle Maschinen für die Aufführung vorgesehen« sind, gibt es leider in diesem Spektakel keine Guillotine zu sehen, dabei ist man doch mittlerweile so richtig auf den Geschmack gekommen. Dafür schwerbepackte Glaubensritter und erfolgreiche Kolonisatoren, und der Kampf zu Lande, zu Wasser und in der Luft geht unverdrossen weiter. Obskure Vehikel sausen über den Platz, mit riesigen Föns versucht man wasser- und luftsprühend (und immer wieder viel Pulver und Torf) dem bösen Gang der bösen Geschichte Einhalt zu gebieten, und Atemholen darf das Publikum erst wieder, wenn zwei Sonnenbebrillte in einem kleinen roten Auto vor einer Bar haltmachend die Hymne der Franzosen schmettern, in italienisch, versteht sich: »Front Pop — ich singe gern über die Liebe.«
Und wieder wendet sich das Blatt des riesigen Buches, und Napoleon steht vor Moskau. Aber an Moskau ist ja bisher jeder gescheitert, und Moskau brennt in vielfarbigen Flammen, gelb, rot und grün, grün ist auch der herrlich geschneiderte Mantel des Imperators und krank seine letzte müde Feldherrengeste. Doch schon steigt versöhnend, der Hoffnung und dem Fortschritt geweiht, die Mongolfiere in dem Himmel empor, die hier offenbar jeden Abend freizügig geopfert wird; jedenfalls machte sich niemand die Mühe, den leise in die laue Sommernacht entschwebenden Ballon aufzuhalten, und auch den mit einer »Armbrust für mechanische Vögel« abgeschossenen Tauben träumte man sinnenfreudig hinterher. Aber damit keine falsche Freude aufkommt an diesem schönen Sommerabend: der Gekreuzigte leibhaftig ersteht vor unseren Augen, als sich das Blatt zum vorletzten Mal wendet. Das ist die drastische Inquisition, der Mann, der seinen Unterleib verlor und zwar schneller, als ihm lieb sein konnte, weshalb er rasch, fast verschämt, nach getanem Massaker durch ein Loch in der grandiosen Kulisse entschlüpft.
Finale: der Erste Weltkrieg. Es hasten mit wehenden Hauben die Krankenschwestern über den Platz und fahren fürsorglich die Krüppel von Verdun nach Hause. Noch einmal wird die gesamte Kriegsmaschinerie vollformatig zum Einsatz gebracht, es donnert, es blitzt, stinkt und kracht, die rotbefrackte Rockband leistet das ihre, das Publikum duckt sich. Inzwischen ist es richtig dunkel geworden auf dem Platz, Marx und Engels beginnen, sich sachte im Grab herumzudrehen, und auch die knackigen Jungs drehen weiter die Kurbel der Geschichte, bis das Schlachtfeld endlich ganz freigeräumt ist.
Vive la France, auch wenn wir einige berühmte Wenigkeiten der französischen Geschichte vermißt haben. Wozu Chronologie, schließlich ist die Geschichte ja noch nichts anderes als die obszöne Wiederholung des ewig jungen Liedes: »Ich singe gern über die Liebe!« Dazu radeln ganz im Rhythmus strammbewadete Tour- de-Franceler vorüber, auch wenn sie nicht wirklich von der Stelle kommen, was mit Sicherheit sehenswert für alle ist, »die ihr Leben nicht als Idiot beenden wollten«, wie 'Midi Libri‘ schrieb. Und sehenswert für alle, fügen wir hinzu, die wissen, daß es Idioten sind, die die Geschichte machen, wie kurz sie auch sei. Und für die anderen: Der König ist tot! Es lebe der König! Felicitas Hoppe
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