Viel Schweiß und ein geraffter Querschnitt

■ Das »Ratibor« in frisch renovierter Spielstätte mit neuem Konzept

Es war wie in den guten uralten Zeiten, als die Berliner Herrschaften übers Wochenende ins grüne Umland fuhren, während das gemeine Fußvolk vor den Bierhallen herumlungerte und die Groschen zählte. Mit dem feinen Unterschied, daß solche temporären Bevölkerungsverluste heutzutage durch den stetigen Zustrom an Touristen lässig aufgewogen werden. Wenigstens um den Kudamm herum. In Kreuzberg hingegen konnte man an diesem Wochenende die Daheimgebliebenen zählen. Einer davon war der Kultursenator, Ulrich Roloff-Romin. Er erschien Samstagabend bei der Neueröffnung einer alten Hochburg der Berliner freien Theaterszene, dem Ratibor- Theater in der Cuvrystraße, blieb tapfer bis halb elf und gab die Paraderolle der Neuen Berliner Zeit: den Mutmacher. Kreuzberg sei keine Sackgasse mehr, sagte er in seiner Ansprache, und zusammen würden wir's schon schaffen. Da konnte ihm keiner widersprechen, und geschafft haben es die Leute vom »Ratibor« allemal. (Das »Theater«-Anhängsel hat man zwecks Diversifizierung gestrichen.)

Eine Dreiviertelmillion Mark an Lottogeldern hat man in die Totalrenovierung der Fabriketage gesteckt, Licht- und Tonanlagen installiert und das Ganze so hermetisch schalldicht isoliert, daß den Anwesenden der Schweiß ausbrach.

Nach fast einjähriger Umbaupause gab es zur Neueröffnung einen gut gerafften Querschnitt durch das »Ratibor«-Programm der nächsten Monate: Performance satt.

Der Percussionist Peter Holliger malträtierte furios eine halbe Handvoll Küchenutensilien, »Bollermann« Andrew Stulle, Fernsehstar und Heimatdichter (Sommer in Rudow/Winter in Britz/Meine rauchende Pfeife/Dein kochender Schlitz) gab sein Bestes, die Gruppe »Vanilla Gordon« kalauerte sich durch Teile ihres neuen Programms, und die große Lindy Annis reduzierte unsere undurchsichtige Welt, wie immer, aufs Wesentliche. Circe sang zum Saxophon, und die Ratibor- Truppe strapazierte eine halbe Stunde lang zu den Carmina Burana das alte Theaterkonzept der Konfrontation von Gebrauchstexten und Bewegung. Die Überraschung des Abends aber waren zehn Minuten Stimme: halsbrecherische Vokal- Improvisationen von Christian Wolz, der die Saalwände regelrecht zum Zittern brachte. Wolz wird Mitte Juli zweimal im Mittwoch- Special des »Ratibor« zu sehen sein, einem Schwerpunkt im neuen Konzept des Hauses, der dem Musik- und Performance-Bereich vorbehalten bleibt, während man an den Wochenenden weiterhin Theater bietet. Den Anfang macht hier Harald Klenk, Ur-Schwabe und künstlerischer Leiter des Hauses, der sein eigenes Solo- Programm Lügen straft: als Harry Hundt macht er wieder den »Mann, der den Aufschwung verpaßte«. Obwohl er mit dem neuen »Ratibor« doch schon ziemlich weit oben ist. Günther Grosser

Ratibor : Cuvrystraße 20, 1/61