FlüchtlingshelferInnen in der Defensive

Die Genfer Flüchtlingskonvention wird 40 Jahre alt/ Doch beim Festakt in der Evangelischen Akademie Tutzing bei München wollte — mit Recht — keine Feierstimmung aufkommen/ Debatte um einen neuen Flüchtlingsbegriff  ■ Aus Tutzing Andrea Böhm

Zu feiern gibt es eigentlich nichts — darin waren sich die FestrednerInnen einig. Folglich hatte der Festakt zum 40. Jahrestag der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) in der evangelischen Akademie Tutzing einen schalen Beigeschmack. Denn vierzig Jahre nach Unterzeichnung der GFK verwenden vor allem die westeuropäischen Staaten ausdauernd Energie und Phantasie darauf, Flüchtlingen die Inanspruchnahme der GFK zu verwehren. Uns in der Bundesrepublik ist das deutsche Pendant, der Asylartikel 16 Grundgesetz („Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“), unter Druck geraten. „Wir waren“, so Herbert Leuninger, Sprecher der bundesweiten Arbeitsgruppe „Pro Asyl“, „noch nie so sehr in der Defensive.“

Wie man da herauskommt, hätte man in Tutzing ausführlich erörtern können, schließlich war man unter sich. Hauptsächlich MitarbeiterInnen aus dem Flüchtlings- und ImmigrantInnenbereich waren zum Festakt und zur Tagung über Flüchtlings- und Migrationspolitik angereist. Über Fluchtursachen sollte debattiert werden, über Sinn oder Unsinn eines Einwanderungesetzes (siehe Kasten) — vor allem aber über die Frage, ob die vor vierzig Jahren formulierte Definition des Flüchtlingsbegriffs heute noch tauglich ist angesichts von immer mehr Menschen, die auf Grund von Kriegen, Bürgerkriegen, Armut oder ökologischen Katastrophen fliehen müssen. Doch angesichts der flüchtlingsfeindlichen Stimmung in der Öfentlichkeit war vielen TeilnehmerInnen von vornherein Lust und Courage vergangen, über die Erweiterung des Flüchtlingsbegriffs zu diskutieren. Da half auch nicht, daß zu Beginn Herbert Leuninger den Versammelten eine Standpauke hielt gegen diese vorauseilende Kapitulation vor Volkes Stimme.

In der öffentlichen Diskussion der Bundesrepublik, so Leuniger, habe sich in Sachen Asylpolitik vom Stammtisch bis in die Staatskanzleien das „primitivste Diskursmodell“ durchgesetzt: Wer kein politisches Asyl bekommt, ist nicht verfolgt — ergo sind bei einer gegenwärtigen Anerkennungsquote von fünf Prozent die restlichen 95 Prozent der Asylsuchenden Wirtschaftsflüchtlinge. Leuninger will die Debatte um eine Erweiterung des Flüchtlingsbegriffs gerade wegen der herrschenden öffentlichen Meinung und machte dies am Beispiel der seit dem 1. Juli von Abschiebung bedrohten de-facto-Flüchtlinge deutlich: also zum Beispiel Tamilen, Palästinenser, Kurden oder Libanesen, die sowohl durch das Interpretationsraster des Artikel 16 als auch der GFK fallen, weil sie in der Regel nicht „individuell“ verfolgt sind, sondern „nur“ vor einem Krieg, Bürgerkrieg, einem ethnischen Konflikt oder, wie viele Frauen, aufgrund geschlechtsspezifischer Verfolgung geflohen sind.

Die GFK erkennt als Flüchtling an, wer „aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung“, wegen seiner politischen Überzeugung, Rasse, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe fliehen mußte, Fluchtmotive wie Krieg oder Bürgerkrieg kommen nicht vor. „Wir werden diese Menschen bei drohender Abschiebung zu schützen versuchen“, sagt Leuninger, „aber wir müssen der Öffentlichkeit auch erklären können, warum wir das tun.“ Humanitäre Prinzipien allein reichten da nicht aus, man müsse zumindest einen alternativen Flüchtlingsbegriff offensiv vertreten.

Vorbilder gibt es genug. Für die Mitgliedsstaaten der „Organisation für afrikanische Einheit“ (OAU) ist anerkannter Flüchtling, wer unter anderem aufgrund von „Ereignissen, welche die öffentliche Ordnung in einem Teil des Landes oder dem gesamten Land ernsthaft stören“, fliehen mußte. Auf eine ähnlich umfassende Definition haben sich 1984 zehn lateinamerikanische Regierungen geeinigt; mit Hinweis auf die OAU hat auch das Europäische Parlament 1987 die EG aufgefordert, eine Neudefinition zu versuchen, die den realistischen Fluchtursachen entspricht.

Vehementen Widerspruch erntete Leuninger ausgerechnet von einem Vertreter des Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR). Ein Flüchtlingsbegriff wie bei der OAU sei schön und gut, aber mangels politischem Willen nicht durchsetzbar, erklärte Peter Nicolaus, UNHCR- Vertreter beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge in Zirndorf. Würden die Staaten Europas den Flüchtlingsbegriff der Genfer Konvention nur richtig anwenden, „dann wäre die ganze Debatte um Erweiterung überflüssig“. Die sei schließlich vor vierzig Jahren nicht formuliert worden, um ausschließlich individuell Verfolgten Schutz zu gewähren, sondern unter dem Eindruck der Massenfluchtbewegungen in Europa.

Ähnlich argumentierte Michel Moussalli, Direktor des UNHCR in Genf, in seiner Rede während des Festaktes. Hätte man 1956, als nach der Niederschlagung des Aufstands durch die Sowjets Tausende von Menschen aus Ungarn flohen, die heute herrschende Interpretation der GFK abgewandt, „wären sie, wie heute die Tamilen oder Libanesen, nicht anerkannt worden.“ In Anwesenheit von Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth und der bayerischen Justizministerin Mathilde Berghofer-Weichner richtete Moussalli in einem für den UNHCR ungewöhnlich scharfen Ton die Aufforderung Richtung Bonn und München, „in keinem Fall Flüchtlinge in Krisengebiete abzuschieben“. Den nötigen politischen Willen demonstrierte auf seiten der anwesenden Politikerinnen — in Tutzing waren es ausnahmslos Frauen — einzig und allein Rita Süssmuth. „Artikel 16 des Grundgesetzes muß in seiner gegenwärtigen Form bestehen bleiben“, erklärte die Bundestagspräsidentin in einer Unmißverständlichkeit, zu der sich zum Beispiel SPD-Sprecherin Cornelie Sonntag-Wolgast nicht durchringen wollte. Das deutsche Asylrecht, so Süssmuth, dürfe man sich auch in der Diskussion um eine europäische Harmonisierung nicht nehmen lassen — ein Standpunkt, der bei den meisten ihrer Parteigenossen helles Entsetzen hervorrufen dürfte. Dem versammelten Publikum war es Balsam auf die Wunden — denn ansonsten kam festliche Stimmung nur beim folkloristischen Begleitprogramm auf. Das durften die bestreiten, über die den ganzen Tag geredet wurde: die Flüchtlinge.