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Zwillinge in Amerika — Mythos als Farce?

■ Einmal im Jahr treffen sich in Twinsburg/Ohio die Zwillinge dieser Welt zum großen Festival — gesponsort von Cola und Sea-World/ Zwillinge sind zwar »verwöhnt«, jedoch ist das »Einfach-nur-Zwilling-Sein« nicht nur das reine Glück/ Kontroverse zwische Milieu- und Erbguttheorie tobt weiter

Ist es Wirklichkeit oder makabre Sinnestäuschung? Die scheußliche geblümte Bluse, das einfältige Grinsen, die verkniffenen Mundwinkel, die Schleife, Dauerwelle, Glatze — alles doppelt! Dazu kommt doppelter Stolz der meisten Festivalteilnehmer: Zwilling zu sein und Amerikaner! Das 16. Zwillingtreffen in Twinsburg/Ohio ist den mutigen Männern und Frauen gewidmet, »die ihrem Land so stolz in den Operationen Desert Storm und Desert Shield gedient haben.« Es gibt hier Wettbewerbe aller Art, prämiert werden die ähnlichsten ebenso wie die unähnlichsten Paare, die mit dem weitesten oder küzesten Weg zum Festival. Von Sponsoren wie Pepsi-Cola oder Sea-World Ohio unterstützt, werden Golf-Turniere, Picknicks und Talent-Shows veranstaltet.

Zwillingskongresse gibt es weltweit, im Juni 1991 sogar den ersten duetschen in Frankfurt. Doch nur die Amerikaner haben mit Twinsburg, so genannt seit 1817, eine eigene Kongreß-Stadt. Der Name geht zurück auf das Testament der eineiigen Zwillinge Moses und Aaron Wilcox, die ihn zur Bedingung dafür machten, daß die Stadt ihre Ländereien erbte.

Ohio ist ein öder Landstrich, geprägt von Ausläufern der Schwerindustrie Chicagos und den Niederlassungen von Nestlé, Mannesmannn oder Chrysler. Die enormen Schäden der Natur werden dem »drought« — der Trockenheit angelastet. Die übelriechende Pampe in den Seen wird als naturgegeben hingenommen.

Schwarze gibt es kaum auf dem Festival, obwohl sie laut Statistik mehr Zwillinge haben, nämlich ein Zwillingspaar auf 77 Geburten statt auf 80 bei den Weißen. Dafür sind drei russischen ZWillingspaare angereist, die sich weinend für das »Kommen-Dürfen« bedanken.

Treffen als Selbstdarstellung

Mythos in Amerika: d.h. Zwillinge in einer Reihe mit Coca-Cola, Fast- Food, Mickey-Mouse und Barbie- Puppe, also aus der Kuscheltierperspektive des amerikanischen Mittelstandes? Es ist sicher die Perspektive der Festivalveranstalter. Das Zwillingstreffen ist willkommener Anlaß in einem Land, wo es ohnehin Exzesse auf diesem Gebiet gibt. Der Wunsch, einer Gruppe anzugehören, ist ebenso groß wie die Bereitschaft, einen Psychoanalytiker zu bezahlen. Tom Wolfe spricht angesichts der Bemühungen seiner Landsleute um Selbstverwirklichung von der Me-Generation.

Ebenfalls aus Amerika kommen die bisher wichtigsten Erkenntnisse der Zwillingsforschung. Die meistzitierte und bisher ergiebigste Studie stammt von Prof. Thomas Bouchard, der 1979 an der Universität von Minnesota getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge untersuchte. Eineiige sind für die Forschung besonders interessant, da sie ja einem Ei enstammen, das sich nach der Befruchtung nochmals teilte, also von den genetischen Anlagen her identisch sind. Anders bei Zweieiigen, wo nur der Befruchtungszeitpunkt gleich ist; die Kinder können sogar von unterschiedlichen Vätern stammen.

Was ist Milieu, was ist Vererbung?

Prof. Burchard ließ 90 Zwillingspaare aus aller Welt anreisen. Das erste Treffen oder »Widersehen« fand in Minnesota vor laufenden Fernsehkameras statt. Anschließend mußten sich die Zwillinge sechs Tage lang umfassenden Tests unterziehen. Selten sind Menschen so gründlich untersucht worden. Mediziner testeten sie auf Allergien, stellten chronische Krankheiten fest, machten EKG's, EEG's usw., es gab Stimmenuntersuchungen, Videoaufnahmen und psychiatrische Tiefenuntersuchungen. Rund 15.000 Fragen wurden gestellt. Gefragt wurde nach allem: Interessen, Gewohnheiten, Marotten. Das Brisanteste, den IQ-Test, überließ Borchard universitätsfremden Psychologen. Denn gerade an diesem Punkt prallten die Kontroversen zwischen Erbgut- und Milieutheorie am heftigsten aufeinander.

Die Ergebnisse der Zwillingsforschung treffen auf eine voreingenommene Öffentlichkeit. Hier ist vor allem Deutschland zu erwähnen. Die ehemalige DDR wurde beschuldigt, Ergebnisse der Zwillingsforschung zu unterdrücken, weil es nicht ins Bild paßte, daß der Mensch durch Vererbung stark geprägt werde. Umgekehrt ist die Bundesrepublik durch den Erbgut-Wahn der Faschisten belastet. Maßgebend war das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie. Es führte u.a. Geisteskrankheiten und Kriminalität auf das Erbgut zurück. Von hier aus ging der Arzt Dr. Mengele nach Auschwitz, wo er auch Zwillingsexperimente durchführte.

Die Ergebnisse der Studie von Prof. Bochard bestätigten die Anhänger der Erbguttheorie. Es ergaben sich bis ins Groteske gesteigerte Ähnlichkeiten bei getrennt aufgewachsenen Zwillingen. Sie reichten vom gleichen Beruf bis hin zur gleichen Brille. Vor dieser Anhäufung von Gemeinsamkeiten verblasse der Einwand, daß es bei Menschen eines Alters und Geschlechts im selben Kulturkreis viel Ähnlichkeiten geben muß. Angesichts einer solchen Häufung sei Zufall ausgeschlossen.

Zwillinge sind verwöhnt

Die Festivalbesucher von Twinsburg kümmert das alles wenig. Die Brüder John und Bill Reiff, 63 Jahre alt und Farmer aus der Umgebung, lassen seit Jahrzehnten kein Zwillingstreffen aus. Jeder von beiden kommt auf dem Tandem und sucht eine Beifahrerin. Ein anderer drückt die Stimmung so aus: »Hier ist man nur Zwilling, egal, ob man häßlich oder schön, alt oder jung, dick oder dünn ist.«

Doch das »Einfach-nur-Zwilling- Sein« ist sicher nicht das reine Glück. Die Probleme beginnen bei den Eltern. Nicht nur, daß ein Zwillingspaar im ersten Lebensmonat 640 Windeln verbraucht, die Mutter ist auch nach der Geburt schwer angeschlagen, hat eine Risikoschwangerschaft hinter sich. Hinzu kommen die materiellen Belastungen, der Streß mit zwei Babys. Da liegt es nahe, die Zwillinge von Anfang an gleich zu behandeln: gleichzeitig zu füttern, gleichzeitig schlafen zu legen. Später kommt die Faszination: Eltern und Kinder entdecken, daß in der Verdoppelung ein Reiz liegt. Zwillinge merken, daß sie nur zusammen etwas Besonderes sind.

Spätestens in der Pubertät beginnt der Kampf um die eigene Persönlichkeit, der mit Trennungen verbunden ist, die Schmerzen und Schuldgefühle erzeugen. Oder die Zwillinge resignieren, führen ihr Leben als Paar, psychisch zusammengewachsen wie die Brüder Chang und Eng, die siamesischen Zwillinge.

Selbst wenn die Geschwister die Trennung, den Kampf um die eigene Identität geschafft haben, bleibt in den meisten Fällen eine tiefe Verbundenheit, eine Harmonie, die Ursula Weck, Autorin und selber Zwilling, beschreibt: »Zwillinge sind verwöhnt. Ganz selbstverständlich leben wir einen Grad von Vertrauthet und Nähe, den viele Liebespaare nie erreichen. Telepathie ist für uns kein Problem. In uns lebt das Wissen, die Gewißheit um das Wesen eines anderen.« Susanne Merrem

Die Fotografin Claudia Jeczawitz hat sich das diesjährige Zwillingteffen in Twinsburg/Ohio angesehen. Ihre Fotos sind in der Galerie »exhibit« vom 17. bis 30.9. ausgestellt. Eröffnung ist am 17.9. um 19.00 Uhr.

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