Nichts zu sehen, aber viel zu erleben

■ Wege duchs Dunkel — eine Ausstellung führt die Sehenden in die Welt der Blinden

»Toctoctoc — tactac — toctoc — toc...« Eine ganze Weile irre ich nun schon tapsig im Kreis herum, schlage mit meinem Stock leicht auf den Boden und gegen die Wand, ohne den Ausgang zu finden. Um mich etwas, das ohne Übertreibung »absolute Finsternis« genannt werden kann. Auch das Bachgeplätscher und Vogelgezwitscher beruhigt kaum, hilft jedenfalls nicht weiter. Am Eingang des Labyrinths waren wir noch ein Dutzend gewesen; die übrigen müssen mit Hilfe ihrer weißen Stöcke schon einen der Nachbarräume gefunden haben. Dann wird auch noch der Boden unter meinen Füßen weich und wabbelig wie Matsch. Ich seufze.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragt eine Frau, von deren Anwesenheit ich bisher nichts bemerkt habe. Sie nimmt meinen Arm und führt mich Dankbaren zielstrebig an den vorläufigen Endpunkt meines Irrens: einen Bar-Tresen — auch er nur zu erfühlen. Ein wenig erschöpft, aber beruhigt, trinke ich zum ersten Mal Sekt, ohne das Glas vor Augen erkennen zu können.

Wer dieser Tage in das Ausstellungszentrum am Fernsehturm kommt, sieht vor allem Schwarz. Schuld daran ist eine Installation, bei der es zwar nichts zu sehen, aber dennoch eine Menge zu erleben gibt. Zum Beispiel das Gefühl der Hilflosigkeit, wenn die bisher wichtigsten Sinnesorgane — die Augen — zur Orientierung nicht mehr taugen und man auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen ist, die sich in der Dunkelheit zwangaläufig besser auskennen als die Sehenden : Die blinden HelferInnen, die den Umherirrenden zur Not Geleit anbieten.

Dialog im Dunkeln heißt diese verkehrte Welt — ein Projekt, das 1988 von der »Stiftung Blindenanstalt Frankfurt« entwickelt wurde — und als Wanderausstellung in verschiedenen westdeutschen Städten schon mehrere zehntausend Menschen anzog. Jetzt gastiert Dialog im Dunkeln am Alex, wo man sich bis zum 15. Oktober einen Eindruck von der Erlebnisweise blinder Menschen verschaffen kann. Die Installation macht sich dabei den Umstand zunutze, daß die Dominanz des Seh-Sinns — mehr als zwei Drittel aller Informationen werden über die Augen aufgenommen — zu einer Verkümmerung der übrigen Sinne führt — zu einer »Behinderung der Nicht-Behinderten« also. Einzig mit einem »Langstock« versehen können die sehenden Besucher mehrere Gänge und Räume erkunden, in denen Außenwelt simuliert und einzig akustisch, taktil, olfaktorisch und kinästhetisch erfahrbar gemacht wird: auf der lärmenden »Verkehrsinsel« stinkt es nach Diesel, der »Wald« duftet nach Kräutern, ungeübte Füße müssen sich auf wechselnde Bodenbeschaffenheiten einstellen, und in einem besonderen Raum können Figuren und Statuten auf ungewohnte und in herkömmlichen Museen verpönte Weise be-griffen werden: durchs Tasten.

Kurz nach Beginn der Wanderung klefft einen plötzlich in Schienbeinhöhe ein Hund giftig an. Doch das ist für manche Besucher nicht der erste große »Schrecken der Finsternis«. Einige wenige Leute hätte aufgrund der ungewohnten Dunkelheit Panik ergriffen, berichtet der für die Gestaltung der Räume verantwortliche Akustik-Designer Axel Rudolph aus seiner nunmehr dreijährigen Ausstellungserfahrung. Dies seien aber Ausnahmen. Ansonsten reiche die Bandbreite der Reaktionen vom stummen Staunen bis zur Euphorie. Die meisten seien begeistert über die Bewußtseinserweiterung, die ihnen in der Ausstellung widerfahre — viele derart, daß sie mehrmals hinkämen.

Neben dem sinn-lichen Vergnügen soll mit dem Projekt Einfühlungsvermögen und Verständnis für die Erlebnisse blinder und stark sehgeschädigter Menschen geweckt werden. Dies kann natürlich nur ansatzweise geschehen, denn besonders die städtische Realität ist für Blinde normalerweise um einiges härter: mit ihren ungesicherten Baugruben, den Fußweghindernissen wie Sperrmüll, Mülltonnen, Anhängern parkender Autos oder überstehenden Stangen in Augenhöhe. Wie wenig der Alltag Blinder im öffentlichen Denken verankert ist, bewies ja zuletzt die Diskussion über die grünen Rechtsabbieger-Pfeile in Ost-Berlin, die nur als mögliche Erleichterung für Autofahrer, nicht aber als letztlich tödliche Gefahr für Blinde gesehen wurden.

Anlaß zur Einladung von Dialog im Dunkeln nach Berlin ist das 100jährige Bestehen des Steglitzer Blinden- Museums — einer auch in Berlin wenig bekannten, in Deutschland jedenfalls einmaligen Einrichtung, die sich um die Darstellung der Geschichte des Blindenwesens bemüht. In einer kleinen Ausstellung wird parallel zur Installation der Kampf für die Integration Blinder anhand der Entwicklung der Blindenschrift, der Blindenbildung und der aktiven und rezeptiven Teilnahme am kulturellen Leben dokumentiert.

Dabei ist zu erfahren, wie der Versuch, den fehlenden Seh-Sinn mit Hilfe von Technik auszugleichen, stets auch von Bedeutung für die Sehenden war. Als beispielsweise während des Ersten Weltkriegs — zuerst in Berlin übrigens — Industriearbeitsplätze für Blinde eingerichtet wurden, entwickelte man Vorrichtungen an Stanzen oder Bohrmaschinen, die später auch als Schutzmaßnahme für die Arbeitsplätze Sehender zur Norm wurden. Von der Entwicklung des Füllfederhalters und der ersten Schreibmaschine bis zu den heutigen elektronischen Arbeitshilfen für Blinde sind so Technik- und Kulturgeschichte Blinder und Sehender ineinaner verzahnt.

Rund 150.000 Blinde und hochgradig Sehbehinderte leben zur Zeit in der Bundesrepublik, jährlich werden es mehr. Nur ein knappes Drittel von ihnen ist von Geburt an blind. Die meisten Betroffenen erblinden im Laufe ihres Lebens durch Krankheit oder Unfall, ihr Anteil ist steigend. Technischer Fortschritt bei der Entwicklung von Arbeitshilfen und tatsächliche berufliche Integration klaffen gerade bei einer generell hohen Arbeitslosigkeit weit auseinander. Obwohl die Palette der beruflichen Möglichkeiten theoretisch vom Programmierer bis zum Psychotherapeuten reicht, üben immer noch mehr als 90 Prozent aller berufstätigen Erblindeten einen der vier traditionellen Blinden-Berufe — Phonotypist, Telefonist, Masseur, Industriewerker — aus. Aufgrund solcher Tatsachen bemühe man sich natürlich auch verstärkt darum, Politiker und Fachleute aus Wirtschaft und Verwaltung für den Besuch einer derartigen Installation und Ausstellung zu gewinnen, meint Axel Rudolph.

Auch die Zukunft des Blinden- Museums liegt im Dunkeln. Nicht zuletzt die Raumnot im Steglitzer Gebäude war verantwortlich dafür, daß die Veranstaltung nun am Alex stattfindet. Auf das Eigeninteresse der Einrichtung verwies denn auch deren wissenschaftlicher Leiter Uwe Benke bei der Eröffnung: Man wolle »auf die schwierige Situatiuon eines einmaligen Museums aufmerksam machen, das ganz auf ehrenamtliche Mitarbeit angewiesen« sei und nicht einmal über Mittel für Neuerwerbungen verfüge.

Die Veranstalter — neben Blinden-Museum und Blindenverein auch der museumspädagogische Dienst — haben eine »Ausstellung zum Anfassen« entwickelt. Besucher können Blindentechniken wie das Drucken von Punktschrift ausprobieren oder einen tastbaren Stadtplan von Berlin herstellen. Der sehr gut gemachte Katalog ist für die Sehenden mit Folien zum Erfühlen tastbarer Noten oder eines Punktschrift- Alphabets angereichert. Blinde könne ihn — zwei Ordner dick — auch in einer Ausgabe in Braille-Schrift erhalten.

Der Alexanderplatz bietet zur Zeit durch den lautstarken Wettkampf von Hütchenspielern, Sektenwerbern und die Privatradio-Giganten RTL und 100,6 den Eindruck eines optischen und akustischen Infernos. Doch gleich nebenan, im Ausstellungszentrum, ist ein Abenteuer ganz anderer Art zu erleben, ein Labsal für alle Sinne, ob verkümmert oder überansprucht. Und für diejenigen, die Angst davor haben, sich beim Dialog im Dunkeln zu verlaufen, haben die Veranstalter einen sicheren Tip: Immer an der Wand lang! Peter Tomuscheit

Dialog im Dunkeln, am Alex; Öffnungszeiten: tgl. außer mo: 10-13 Uhr und 15-18 Uhr, do bis 21 Uhr.