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„Wer Algier verläßt, kommt nicht zurück“

Die Hoffnungen der Algerier richten sich immer mehr auf die Auswanderung/ Emigration als entwicklungspolitisches Zaubermittel/ Der Reichtum derjenigen, die einmal im Ausland waren, nährt den Frust der Zurückgebliebenen  ■ Von Dominic Johnson

Morgengrauen. Das matte Tageslicht verleiht Algier einen eigenartig fahlen, weißen Glanz. Aus den engen Straßen der Millionenstadt zwischen Mittelmeer und Hochplateau quillt Hektik und Lärm. Doch dort, wo die Brandung gegen die alte Kaimauer schlägt, herrscht stoische Ruhe. Seit früher Stunde werfen hier die Fischer ihre Ruten ins Meer aus — und blicken nach Norden. Erst mit Einbruch der Nacht werden sie sich wieder dem Land zuwenden, ihren überfüllten, brüchigen Wohnungen.

Algier kehrt dem Land den Rücken zu. Die alte Piratenstadt hat ihre gloriose Vergangenheit nie vergessen: Jahrhundertelang war sie Basis einer mächtigen Kriegs- und Handelsflotte, die siegreiche Schlachten gegen England und Frankreich führte, eine kosmopolitische Metropole voller prachtvoller Paläste und Schätze aus aller Welt. Dreihundert Jahre später mag die Viermillionenstadt, die aus allen Nähten platzt und deren öde Betonslums über die Berge ins Landesinnere wuchern, zur stinkenden, korrupten Hölle verkommen sein — das Meer bleibt im Bewußtsein Algiers eine Quelle des Reichtums, die Wanderung nach Übersee ein Schlüssel zum Glück.

Der kleine Imbißschuppen unweit des Strandes, wo sich Nachtschwärmer mit pappigen Pizzaquadraten und klebrigsüßiger Limonade vergnügen, verkörpert die Hoffnungen einer Generation. Sauber an der Wand aufgereiht stehen sieben leere Coca-Cola-Dosen, einige leere Zigarettenschachteln von Stuyvesant und Marlboro, darüber eine europäische Schneelandschaft mit Bergkapelle, außerdem die Al-Aqsa-Moschee von Jerusalem und ein Koranvers. Aus Geschichtsmythen und Konsummüll sucht sich eine arbeitslose Jugend, die auf den Straßen der nächsten Konfrontation mit der Polizei entgegenfiebert und die ganze Politclique zum Teufel wünscht, ihre Utopie zusammen. Und wenn alles schiefgeht, kommt sicher irgendwann das große weiße Schiff aus Australien, um die Erniedrigten und Beleidigten zum Paradies zu führen...

Nach Europa zu kommen wird allerdings immer schwieriger. Ein eiserner Vorhang aus Visumbeschränkungen und realsozialistisch anmutenden Konsularschikanen senkt sich über das Mittelmeer. Bonn gilt im Straßenklatsch als bürokratischer Alptraum, Paris als paranoid. Am besten kommt London weg: Wer einmal drin ist, taucht im Großstadtdschungel leicht unter — aber es kommt auch vor, daß der mit gültigem Einreisevisum versehene Reisende in Handschellen in das nächste Flugzeug nach Hause gesetzt wird.

Das Risiko zwingt zum Zusammenhalt. Unterderhand werden günstige Kontakte weitergegeben oder verkauft. Jedes Stadtviertel hat seine eigenen Schleichwege. So schickt Kouba, wo einst Islamistenführer Belhadsch die Massen aufwiegelte, seine Kinder bevorzugt nach England. Bab el-Oued, das überfüllte, aufrührerische Arbeiterquartier am Meer, blickt hingegen nach Fernost: Der Legende zufolge bringen seine felsigen Strände die besten Perlenfischer der Welt hervor, die vor Thailand in die Tiefen tauchen.

Etwa 30.000 Algerier sollen in den letzten Jahren offiziell emigriert sein — vor allem Ärzte, Pflegekräfte, Informatiker. Neben dieser Elitemigration gibt es aber auch eine zweite, unstete Saisonwanderung: Bauarbeiter, Mechaniker, Ungelernte aller Art suchen im Ausland ein kurzes Glück. Naheliegend für die Hafenstadt Algier ist auch der Export von Seeleuten, die im Sechsmonatsrhythmus nach Dubrovnik, Marseille, Rotterdam oder Hamburg gelangen. Wer Sinn für Geschäfte hat, kann sich hier eine goldene Nase verdienen. Ein VW-Golf, in Frankreich für DM 6.000 zu haben — zum offiziellen Kurs 60.000 algerische Dinar—, bringt in Algerien 500.000 Dinar oder DM 30.000 auf dem Schwarzmarkt. Die Hälfte des Erlöses kassiert der Zoll. Doch der Rest ist ein Vermögen.

Gerade dies aber nährt den Frust der Zurückgebliebenen. Nicht blanke Not, sondern das Mitansehenmüssen der Bereicherung weniger treibt immer mehr Algerier in die Emigration. „Unser Land ist im Arsch“, erklärt ein 29jähriger Ingenieur auf einer Parkbank. „Schau dir unseren Präsidenten an. Gerade hat er sich wieder ein Haus in Frankreich gekauft.“ Nach Frankreich will er allerdings selber: „Was ich dort mache? Weiß ich nicht. Aber ich werde Geld verdienen.“ Will er später zurückkehren? Die Antwort ist ein kurzes, bitteres Lachen: „Wer Algier verläßt, kommt nicht zurück.“

Manche tun es doch. In schummrigen Hotelbars werden neuerworbene Reichtümer im Whisky ertränkt— 90 Dinar das Glas oder eine kleine Monatsmiete in der Altstadt — und der Alkohol entlockt der Rückkehrerphantasie grandiose Projekte. Der Hochseefischer träumt vom Hotelkomplex in der Sahara-Oase, der Computerprogrammierer vom globalen Import-Export-Geschäft. Es ist aber nicht nur der Alkohol, der solche Luftschlösser fördert. Die neue Wirtschaftspolitik der Regierung stützt sich auf die Träume der Privatinvestoren und gründet ihre Hoffnungen auf die Geschäfte einfallsreicher Emigranten. Durch Algiers Privatpresse schwirren bereits gigantische Umbaupläne für die Hauptstadt: „Die Operation besteht darin, erst mal alle Schlafstädte abzureißen... Dann werden die alten Viertel alle restauriert, und schließlich werden tiefgreifende Veränderungen durchgeführt, um die vielen architektonischen und städtebaulichen Mängel zu beheben“, schreibt allen Ernstes die angesehene Tageszeitung 'El Watan‘. Ein Geschäftszentrum mit einer der größten Bibliotheken der Welt, mamorner Einkaufspassage und Fünf-Sterne-Hotel soll das Altstadtviertel Belcourt zieren, „so wie Paris Montparnasse hat und New York Wall Street“. Die Bautätigkeit hat schon begonnen: Belcourts einst quirlige Hauptstraße wurde auf mehreren hundert Metern Länge halbiert. Rechts stehen noch Läden, Bäume und Cafés; links gähnt Algiers größtes Loch.

In dieser Dynamik spielt die Emigration als Wachstumsmotor eine entwicklungspolitische Schlüsselrolle. Soll Algier auf diese groteske Weise Anschluß an seine Weltstadtvergangenheit finden? „Das Schlimme“, so eine langjährige Bewohnerin der Hauptstadt, „ist, daß jetzt auch diejenigen gehen wollen, die an dieses Land glaubten. Nach der Befreiung 1962 wollten wir hier eine bessere Gesellschaft aufbauen. Aber jetzt haben die Leute diese Hoffnung nicht mehr. Wir haben unsere Chance verpaßt.“

Bisher erschienen in der Serie Beiträge zu den USA (15.8.), Mexiko (23.8.), der Schweiz (27.8.) und Großbritannien (5.9.).

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