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In der Verlängerung ging das Bier aus

Die Reutlinger Amateure machten die Leverkusener Profis für 100 Minuten zu „Deppen der Nation“ Der Bundesliga-Dritte mogelte sich mühsam mit 3:2 nach Verlängerung in die Runde der letzen Acht  ■ Aus Reutlingen Max Alberg

Schaftsall, Tagliaferri, Fritschi, Kasperski! Mit ihnen schaffte der SSV Reutlingen 1964/65 hinter dem FC Bayern München mit Beckenbauer, Maier und Müller den zweiten Platz in der Regionalliga Süd. In den Aufstiegsspielen zur Bundesliga scheiterte die Mannschaft dann knapp an Borussia Mönchengladbach. Reutlingen heute ist Fußballprovinz im Hinterland von Stuttgart. Mit dem jetzigen VfB-Co-Trainer Lorenz Günther Köster wurde zweimal knapp der Sprung in die zweite Bundesliga verpaßt. Und in der Tabelle der Spitzeneinkommen rangiert die „Stadt der Millionäre“ auch nur noch unter ferner liefen.

Der neue Coach der Oberligisten, Wilfried Gröbner (Olympiasieger in Montreal 1976), kam vom FC Rot- Weiß Erfurt aus Thüringen und brachte einige DDR-Halbprofis mit. Nach Fehlpässen mußten sie sich von den Fans das schwäbische Ethos von Arbeit, Schweiß und Tränen anhören: „Geh doch wieder rüber, du faule Sau!“ Durch einen Sieg über Gröbners Ex-Verein und Zweitligisten Erfurt zogen die Amateure ins Pokal-Achtelfinale ein. Vor dem Spiel gegen Bayer Leverkusen holte sich der Trainer Rat bei seinem Schwager René Müller, dem Keeper von Dynamo Dresden. Er hatte vergangenen Samstag gegen die Chemiekonzern-Kicker vier Tore kassiert. Mit dabei in Reutlingen war wieder Heiko Herrlich, der im letzten Punktspiel noch die rote Karte gesehen hatte, aber mit einer 3.000-Mark-Geldstrafe davonkam.

Eppingen, Geislingen, Reutlingen? Mit Rätschen (knatternden Holzgeräten), mit denen hierzulande gierige Vögel aus den Weinbergen vertrieben werden, versuchte sich das Publikum des haushohen Favoriten zu erwehren. Selbst ein St.-Pauli- Totenkopf wurde gehißt. Aber die Leverkusener schienen den Gastgebern das Medikament Talcid eingeflößt zu haben, für das sie auf ihren Trikots werben (Nebenwirkung unter anderem Durchfall). So gestrichen voll hatten jedenfalls die Reutlinger zunächst die Hosen. Nach dem 0:1 durch Andreas Thom glaubte der Erstligist leichtes Spiel zu haben. Bis Roth mit einem abgefälschten Freistoß Vollborn zum 1:1 verlud. Im Stadion unter dem verloschenen Alb- Vulkan Georgenberg brach Stimmung aus: „Wir fahren nach Berlin!“

In der zweiten Hälfte gingen dann die Reutlinger das Tempo voll mit. Ihre Ex-Profis Schöler und Winter ließen den Klassenunterschied vergessen. Bayer wurde immer nervöser, Fehlpässe und Fouls häuften sich, Kanonier Kree kam nie zum Schuß. Der SSV hatte gute Torchancen, fing sich dann aber amteurhaft das 1:2 von Lesniak ein. Minuten später zirkelte erneut Roth das Leder bei einem Freistoß unhaltbar ins Toreck zum 2:2. In der Verlängerung ging im „Kreuzeiche-Stadion“ das Bier aus. Die Reutlinger gingen mutig bis an die Grenze ihrer Kondition — schließlich hatte ein örtlicher Disko-Besitzer 200 Mark pro Tor ausgelobt. Die mit Nationalspielern gespickte Werkself schrammte knapp am Elfmeter-Schießen vorbei. Manager Calmund: „Das hätten wir nie gewonnen.“ Aber Heiko Herrlich lochte vorher einen Ball zum 3:2 ein, den die Reutlinger Abwehr vorher im Aus gesehen hatte. Die Zuschauer machten ihrer Enttäuschung Luft: „Ihr Giftmischer!“

„Zum Schluß war Leverkusen so platt wie wir“, freute sich SSV-Trainer Gröbner und setzte nach dem Spiel neue Maßstäbe für seine Elf: „Wir müssen das Spiel schnell aus den Beinen kriegen. Aus den Köpfen werden wir's ein paar Jahre nicht kriegen.“ Der Oberliga-Alltag hat sie wieder, nächster Gegner: Gaggenau. Reinhard Saftig war mit den Gedanken schon in Bochum: „Im Pokal zählt nur noch, unter den letzten Acht zu sein.“ Torhüter Vollborn hatte vor dem Spiel noch „Angst vor einer Blamage“ und war danach „so froh, daß wir das Ding nach Hause geschaukelt haben.“

Leverkusen verpaßte den Rückflug und mußte mit dem Bus die Heimreise antreten. Vor dem Spiel hatte Saftig noch getönt: „Wenn wir hier nicht gewinnen, sind wir die Deppen der Nation.“ Zumindest 100 Minuten lang waren sie's.

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