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Stadtkarten neu gemischt: Vorläufig wohnt mancher in einer Straße mit zwei Namen

■ Berliner Kartenverlage warten auf die Straßenumbenennungen/ Der Senat macht Druck/ Straßenverzeichnisse mit doppelten Angaben/ Bei Außenbezirken bleibt zunächst alles beim Alten/ Für Touristen und Wähler

Klement Gottwald verschwand als erster. Anfang September ließ die Verwaltung des Bezirks Weißensee die angerosteten Straßenschilder mit dem Namen des tschechischen KP- Gründers und späteren linientreuen Stalinisten in einer Nacht- und Nebelaktion von ihren Pfählen schrauben und durch nagelneue ersetzen. Seither trägt der Straßenzug zwischen Greifswalder Straße und Malchower Chaussee wieder den Namen ‘Berliner Allee‚. Dem Prager Altkommunisten sollen in den nächsten Monaten weitere folgen, nicht nur in Weißensee.

Etwa 60 Straßen zwischen Brandenburger Tor, Buch und Bohnsdorf stehen auf dem Straßenumbenennungsprogramm der östlichen Stadtbezirke. Die Berliner kartographischen Verlage warten schon seit Monaten auf die Entscheidungen, und für die Neuauflagen der Stadtpläne kommen viele der neuen Straßennamen bereits zu spät.

Im Berliner Büro des Hamburger Falk-Verlags hat man sich längst auf Zwischenlösungen eingestellt, denn die Neuauflage muß spätestens Mitte November in Druck gehen. So werden im eigenwillig gefalteten »Falk- Plan Berlin« einige Straßen mit beiden Namen versehen, andere behalten vorerst die alten, obwohl bereits abzusehen ist, wohin der Hase läuft: Was nicht von den Bezirksämtern abgesegnet ist, will man nicht in die neuen Karten übernehmen.

Unbenennung erfolgt »je nach Kassenlage«

Auch wo die Umbenennung beschlossene Sache ist, die Straßenschilder aber noch auf sich warten lassen, bleibt man bei Falk beim Alten oder beschriftet doppelt, um die Kartenbenutzer nicht in allzugroße Verwirrung zu stürzen. So geschehen etwa im nagelneuen Rostocker Stadtplan. Die dortige Stadtverwaltung hat nämlich ihre Beschlußfassung zu 80 Umbenennungen mit dem salomonischen Zusatz »praktische Umbenennung erfolgt je nach Kassenlage« versehen.

Noch einen Schritt weiter vorgewagt hat man sich beim Berliner RV- Verlag. Im neuesten Stadtatlas Berlin und den knallroten RV-Straßenkarten werden auch Namen auftauchen, die ganz offiziell noch nicht abgesegnet sind, auf den Listen der Bezirke aber ganz oben stehen. Den »Platz der Akademie« vor Schinkels Schauspielhaus hat man zum Beispiel wieder als »Gendarmenmarkt« kartographiert, genau wie den Lustgarten zwischen Dom, Altem Museum und Zeughaus, der zu DDR- Zeiten nichts weiter war als der nördliche Teil des Marx-Engels-Platzes — beide Plätze sind vom Bezirk Mitte noch nicht offiziell umbenannt. Jürgen Tosch, Chefkartograph bei RV argumentiert mit der langen Nutzungszeit der Atlanten. Nach seinen Erfahrungen kaufen sich die Berliner nur alle sechs bis sieben Jahren ein neues Exemplar.

Umgekehrt läßt man im einfachen Stadtplan vorerst vieles beim Alten, vor allem in den Quadraten der Außenbezirke. Tosch hat dabei den klassischen Touristen im Kalkül: »Ein japanischer oder amerikanischer Berlinbesucher wird wohl kaum die Albert-Norden-Straße in Hellersdorf suchen, der Gendarmenmarkt allerdings wird sicherlich bald in den Reiseführern auftauchen.«

Ein schnelles Ende der ganzen Konfusion soll jetzt eine aktuelle Ausführungsvorschrift der Senatsverwaltung für Verkehr und Betriebe zum Berliner Straßengesetz bewirken, nach der mit Wirkung vom 13. September alle Umbenennungen innerhalb Berlins bis zum 31. Dezember abgeschlossen sein müssen. Dahinter steckt allerdings weniger Hilfsbereitschaft für die geplagten Kartographen, sondern die Sorge um den Wähler. Am 17. oder 24. Mai nächsten Jahres (das Landeswahlamt hat sich noch nicht definitiv festgelegt) finden die Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen statt, und in den Monaten davor dürfen keine Änderungen der Straßennamen vorgenommen werden — der Wähler soll schließlich das Wahlamt in der Straße wiederfinden, die auf seinem Wahlschein angegeben ist.

Den Kartenverlagen kommt der Erlaß entgegen, obwohl Gerhard Kolmorgen vom Falk-Verlag skeptisch bleibt: »Der Senat hat keine Druckmittel, mit denen er die Bezirke zum handeln zwingen könnte« — was bis Ende des Jahres keinen neuen Namen hat, wird dann eben bis nach den Wahlen warten müssen.

Für den dritten großen Berliner Kartenverlag jedoch sind die Straßennamen derzeit das geringste Problem. Beim Tourist-Verlag in Mitte, dem ehemaligen VEB Tourist, weiß noch keiner so recht, wer der neue Herr im Haus sein wird. Geschäftsleitung und Treuhand verhandeln derzeit mit der deutsch-schweizerischen Verlagsgruppe Funk, Kümmerly und Frey, aber sowohl in Stuttgart als auch am Spittelmarkt will man sich noch nicht festlegen.

Topographische Geheimnisse der DDR

Die Süddeutschen bekommen allerdings — vorausgesetzt sie greifen zu — einen Verlag, der bis vor zwei Jahren Zugang zu einem der bestgehüteten Geheimnisse der DDR hatte: die topographischen Karten der Republik. Sie waren Verschlußsache, und die Kartographen der DDR hatten sich sogar mit zwei Geheimstufen herumzuschlagen.

Die grundlegenden topographischen Karten, auf denen alle Gebrauchskarten aufbauen, waren sogenannte »S-Karten«, absolut tabu und nur den Militärs und gewissen Verwaltungsstellen zugänglich. Nur den volkswirtschaftlichen Betrieben wurden »entschärfte« Versionen, die V-Karten, zur Verfügung gestellt, bei denen zum Beispiel die grenznahen Bereiche schlichtweg weiß blieben — die Blätter mußten nach Gebrauch zurückgegeben werden.

Auch auf den einfachen Straßenkarten des VEB Tourist entsprach nicht alles der Wirklichkeit. Man hatte winzige Lageveränderungen, Maßstabsschwankungen und Modifizierungen im Straßenverlauf vorgenommen, alles nach Vorgabe staatlicher Stellen, die in ihrer Spionagehysterie auf eine uralte Methode der Militärs zurückgriffen hatten, gemäß der es dem Feind verunmöglicht werden mußte, seine Geschütze nach Landkarten auszurichten — und das alles im Zeitalter der Satelliten.

Der neue »Große Stadtplan Berlin« des Tourist-Verlages, der in den nächsten Wochen auf den Markt kommt, wird natürlich — genau wie die Radwanderkarte »Rund um Berlin« — den geographischen und baulichen Gegebenheiten entsprechen. Ob dann die Verbindung zwischen Mauer- und Kommandantenstraße in Mitte nun Reinhold-Huhn- oder Schützenstraße genannt wird, mag vielen Touristen schnurz sein. Sie werden den Checkpoint Charlie so oder so vergeblich suchen und von den verbliebenen Mauerresten enttäuscht sein. Daß uns die versammelten Armeen dieser Welt mit »Tourist«-Karten und per Fahrrad überrollen werden, steht ebenfalls kaum zu erwarten. Günther Grosser

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