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Ödipus am Spielautomaten

■ Immer noch gilt die Spielsucht unter Psychiatern nicht als „echte“ Sucht/ Therapiemethoden sind zu wenig entwickelt/ Bankrotte Spieler müssen Therapie fast immer aus eigener Tasche bezahlen

Spielsüchtige, behauptet der Hamburger Psychiater Bert Kellermann, gäbe es unter seinen Patienten seit fünf Jahren mehr als Medikamenten- oder Alkoholabhängige. Für Kellermann ist klar: Spielen kann eine Sucht werden. Doch was dem Laien auf den ersten Blick selbstverständlich zu sein scheint, beginnt sich unter Wissenschaftlern erst langsam durchzusetzen. Unter dem Mainstream der Psychiater und Mediziner gilt die Spielsucht nämlich noch nicht als „echte“ Sucht, sondern lediglich als neurotische Störung.

„Leider kümmern sich um Süchtige immer noch viel zu wenige Fachkollegen“, so Kellermann. Er ist einer von wenigen, die fordern, Spielsucht endlich in den Rang einer „echten“ Sucht zu erheben, was die Psychiater zwingen würde, sich auch über geeignete Therapiemethoden Gedanken zu machen. Der Verband Freier Einrichtungen in der Suchtarbeit hat jetzt erneut darauf hingewiesen, daß immer noch zu viele Mediziner, statt einer Sucht therapeutisch zu begegnen, den Süchtigen Psychopharmaka verschreiben. Doch auch die können süchtig machen.

Daß es sich beim Spielen tatsächlich um eine Sucht handle, begründet Kellermann damit, daß die Symptome der Spielsucht denen anderer Süchte, beispielsweise der Alkohol- oder Tablettensucht, ähneln: Die Betroffenen verlieren die Kontrolle, benötigen die Droge immer häufiger; sie sind unfähig, über längere Zeit hinweg nicht zu spielen. Sind sie dennoch dazu gezwungen, haben sie mit regelrechten Entzugserscheinungen wie Reizbarkeit, Depressivität und Herzrasen zu kämpfen.

Ungelöster ödipaler Konflikt oder Krankheit

Die Gegner der Suchttheorie führen ins Feld, daß die Spielsucht im Gegensatz zu anderen Süchten keine organischen Veränderungen, beispielsweise im Gehirn, hervorruft. Es kommt nicht zur körperlichen Abhängigkeit. Exzessive Spielleidenschaft, so ihre These, ist Symptom einer Neurose; deshalb könne nur eine Verhaltenstherapie den Spielern helfen. Berufen können sie sich dabei immerhin auf Sigmund Freud, ist doch der Streit um das Glücksspiel so alt wie die Psychoanalyse selbst: Für den nämlich war die Spielleidenschaft Folge eines ungelösten ödipalen Konflikts. Der Spieler spiele, um zu verlieren, er will sich damit selbst bestrafen für die Inzestphantasien mit der Mutter und für den Todeswunsch gegen den gehaßten Vater.

Der Streit, ob Spielsucht eine „echte“ Sucht ist oder nicht, könnte neben therapeutischen auch politische Folgen haben, denn wenn die Anhänger der Suchtthese ihre Auffassung als die gängige Lehrmeinung durchsetzten, hätte das beispielsweise juristische Konsequenzen: Geriete dann ein Spielsüchtiger mit dem Gesetz in Konflikt, müßte ihm verminderte Schuldfähigkeit zugute gehalten werden, wenn die Straftat der Geldbeschaffung diente.

Immmer mehr Spielsüchtige möchten sich therapieren lassen — doch Möglichkeiten gibt es wenige: nur fünf Krankenhäuser in Deutschland. Bezahlen müssen die Spieler die Therapie häufig aus eigener Tasche. Angesichts der Tatsache, daß sie sich meist erst dann vom Spielen verabschieden wollen, wenn sie sich bereits finanziell ruiniert haben, ist das besonders problematisch. Kellermann berichtet, daß sich Krankenkassen, aber mehr noch Rentenversicherungen „normalerweise erst dann von der Notwendigkeit einer Therapie überzeugen lassen, wenn der Betroffene entweder suizidal ist oder völlig verschuldet“.

Das Erlanger Psychiaterteam Thomas Rechlin und Peter Joraschky, auch sie Befürworter der Suchttheorie, fordert deshalb eine „undogmatische Haltung der Krankenkassen“, denn: „Ärztliche Therapeuten dürfen sich dem Phänomen des Glücksspielens nicht länger entziehen.“

Wenn Frauen spielen, trennen sich die Männer

Bei den bereits existierenden Hilfsangeboten, in erster Linie Selbsthilfegruppen, liegt der Akzent deshalb stark auf praktischer Lebenshilfe: „Das Ziel ist nur, spielfrei zu bleiben und den Umgang mit Geld wieder zu lernen“, resümiert Ex-Spieler Thomas F. Diese Gesprächsgruppen sind wissenschaftlich bislang wenig fundiert.

Die Menschen, die von der Sucht betroffen sind, werden immer jünger. „Die meisten sind zwischen 18 und 25 Jahre alt“, berichtet Kellermann. Daß das Problem Spielsucht durch die Freigabe von Automatenspielen beispielsweise in Spielhallen eine neue Dimension bekommen hat, glaubt der Pädagoge Reinhardt Düffurt, der in Berlin ein Café für Spielsüchtige leitet: „80 Prozent unserer Besucher sind vom Automatenspielen abhängig.“ Die ersten Süchtigen seien ziemlich bald nach der Freigabe der Spielautomaten aufgetaucht.

Die Umsätze der Spielhallen haben die der Casinos schon lange überholt. Mit den immer raffinierter werdenden Spiel- und Einsatzmöglichkeiten steigt auch der Reiz. Die beiden Erlanger Psychiater haben jetzt eine Schätzung veröffentlicht, nach der sich etwa 20.000 Menschen in der alten Bundesrepublik durch das Automatenspielen psychisch belastet fühlen; das sind wenige im Vergleich beispielsweise zu Drogengefährdeten, doch die Tendenz ist steigend.

Neun von zehn Spielern sind Männer. Dennoch sind es fast immer Frauen, nämlich die Partnerinnen der Spieler, die den ersten Kontakt zu Beratungsstellen aufnehmen. Düffurt, der sich seit den vier Jahren, in denen das Café besteht, über „die unendliche Leidensbereitschaft“ der Frauen wundert, berichtet, daß sie in den „Angehörigengruppen“ meist unter sich sind. „Aber wenn Frauen spielen, trennen sich die Männer meist von ihnen“, berichtet der Berliner Pädagoge. In letzter Zeit finden aber auch „erschreckend viele“ Ostberliner den Weg in das Café, das neben Beratung auch noch Selbsthilfegruppen anbietet. Lisa Steger

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