Bush behält die Hälfte der Atomwaffen

■ Land- und seegestützte Atomwaffen kurzer Reichweite werden verschrottet/ Luftgestützte Raketen bleiben SDI wird weiterentwickelt/ Weltweites Lob für Bush, aber die erwartete klare Gegenleistung aus Moskau läßt auf sich warten

Berlin (ap/afp/dpa/taz) — Weltweit hat der Vorstoß von US-Präsident Bush zur Verringerung des amerikanischen Atomwaffenpotentials Beifall gefunden. In Paris, London, Tokio und selbst in Pjönjang wurde der „bemerkenswerte“, „kühne“, „weitreichende“ und „historische“ Schritt begrüßt. Besonders euphorisch waren die Bonner Reaktionen: Bundeskanzler Kohl dankte Bush im Namen aller Deutschen dafür, daß die atomar bestückten Kurzstreckenraketen sowie die nukleare Artillerie aus der Bundesrepublik abgezogen werde. Dadurch werde der Frieden „sicherer“. Außenminister Genscher erlebte eine seiner „in der politischen Arbeit befriedigendsten Stunden“. CSU-Chef Waigel bescheinigte dem US-Präsidenten sogar, er habe die politische Führung „für die USA und den Westen“ zurückgewonnen.

Am Samstag hatte Bush seine neue Militärstrategie vorgestellt: Danach werden land- und seegestützte taktischen Atomwaffen kurzer Reichweite und Raketen mit mehreren atomaren Sprengköpfen verschrottet. Interkontinentalraketen, die unter den START-Vertrag fallen, sollen vorzeitig vernichtet werden, und ein Teil der geplanten Entwicklung neuer Raketen soll gestoppt werden. Die Zahl der taktischen Atomwaffen, die die USA hauptsächlich aus Europa abziehen wollen, wird auf etwa 3.000 geschätzt. Dazu gehören 1.300 landgestützte nukleare Artilleriegeschosse, 850 Atomsprengköpfe der Kurzstreckenraketen des Typs Lance und 500 taktische Atomwaffen, die auf Schiffen und U-Booten stationiert sind, darunter 100 Marschflugkörper. Bush forderte die Sowjetunion auf, ebenfalls ihre Atomwaffenarsenale drastisch zu verringern, und rief Moskau zu intensiverer gemeinsamer Kontrolle der verbleibenden Kernwaffen auf.

Die ständige Alarmbereitschaft der amerikanischen strategischen Bomber wurde wenige Stunden nach der Ankündigung des Präsidenten aufgehoben. Ihre atomaren Waffen sollen in Bunkern gelagert werden.

Bush begründete seine Initiative mit den politischen Veränderungen in Osteuropa und der UdSSR. „Wir können jetzt Schritte unternehmen, die Welt weniger gefährlich als je zuvor im nuklearen Zeitalter zu machen“, sagte Bush.

Wenn die USA und die UdSSR, jeder für sich und in einigen Punkten zusammen, die richtigen Schritte täten, „können wir das weltweite Atomwaffenarsenal drastisch verringern“. Bush machte keine Angaben über Einsparungen im Verteidigungsetat. In welchem Umfang und Zeitraum die schätzungsweise noch 19.000 amerikanischen und 27.000 sowjetischen Atomsprengköpfe verringert werden sollen, blieb ebenfalls offen.

Was von der Initiative nicht erfaßt wird und weiterhin Teil der Nato- Strategie zum Erhalt des „nuklearen Gleichgewichts“ bleibt, sind die von Flugzeugen getragenen Atombomben, derzeit rund 1.400 bis 1.600. Ihnen dürfte auch in Zukunft größere Bedeutung zukommen. Allein in der Bundesrepublik wird das Overkill- Potential auch nach Verwirklichung der Bush-Initiative noch groß sein: Rund 1.500 Atombomben bleiben. Weiterhin wollen die USA auch an der Entwicklung ihres SDI-Programms festhalten. Auch ein Verzicht auf Atomversuche, wie ihn unter anderem Gorbatschow fordert, ist ausdrücklich nicht in der amerikanischen Initiative enthalten.

In einer ersten Reaktion erklärte der sowjetische Staatspräsident: „Die Initiative verspricht Fortschritt auf dem Weg zu einer atomwaffenfreien Welt.“ Er bat jedoch um Zeit für eine eingehende Beurteilung.

Der französische Staatschef Mitterrand kündigte einen Gipfel der vier Atommächte an, die Nuklearwaffen in Europa haben: USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich. Für eine wesentliche Verringerung der französischen Atomstreitmacht seien die Schritte von USA und Sowjetunion jedoch noch nicht weitreichend genug, sagte Mitterrand.

Großbritannien will zwar Teile seiner Atomwaffen verschrotten — Verteidigungsminister King gab bekannt, es handele sich um Kurzstreckenraketen und Gefechtsfeldwaffen —, doch weiterhin sollen atomar bestückte Schiffe zur britischen Sicherheit auf See bleiben. Premierminister Major bekräftigte, London halte an einer „angemessenen“ atomaren Abschreckung fest. Nato-Generalsekretär Wörner sprach von einem „Meilenstein beim Aufbau eines friedlichen, freien und von Zusammenarbeit geprägten Europas“. Ein Europa ganz ohne Atomwaffen wäre nach seiner Ansicht jedoch unsicher.

Nach Ansicht des ehemaligen Bundeswehrgenerals Bastian bringt die US-Initiative keine wirkliche Abrüstung, sondern nur ein Umrüsten des Militärpotentials. Die Ankündigung Bushs sei weder „sensationell noch eine Entscheidung von historischem Ausmaß“, sagte er dem Berliner 'Kurier am Sonntag‘. Es sei vielmehr die „längst überfällige Reaktion auf die Tatsache, daß sich der Warschauer Pakt einseitig und ohne Gegenleistung aufgelöst hat“. Es mache keinen Sinn mehr, Waffen in Europa zu stationieren, „für die es keine Ziele und keine Gegner mehr gibt“. Bastians Analyse: „Wir werden nicht weniger Atomwaffen haben, sondern den gleichen Bestand behalten oder sogar mehr bekommen.“ dora