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Warten auf das Wirtschaftswunder

■ Die Steuermilliarden kurbeln zwar den Aufbau der ostdeutschen Wirtschaft an. Experten warnen aber vor allzu großem Optimismus.

Warten auf das Wirtschaftswunder Die Steuermilliarden kurbeln zwar den Aufbau der ostdeutschen Wirtschaft an. Experten warnen aber vor allzu großem Optimismus.

Von Donata Riedel

Dresden, Maulbeerenweg. Vor dem Plattenbau in der Neubausiedlung zupft eine Frau Unkraut aus dem frisch angelegten Vorgarten. Der Bürgersteig ist erst vor kurzem gepflastert worden. Und ein Stück die Straße hinunter sind Bauarbeiter damit beschäftigt, den Asphalt zu erneuern. „Ohne die Einheit“, glaubt eine Anwohnerin, „wäre das Viertel hier nie fertig geworden.“ Vom Plattenbauviertel am Stadtrand rattert die Straßenbahn langsam zwischen aufgerissenen Leitungsschächten hindurch Richtung Innenstadt. Das Dröhnen der Preßlufthämmer überdeckt den Verkehrslärm, es riecht nach Staub und nach Teer. Das Dresdner Schloß verschwindet hinter einem Gerüst, desgleichen der berühmte Zwinger. Die Baubranche — so könnte man glauben — boomt in Dresden, in Sachsen, in Ostdeutschland.

Das Sichtbare offenbart jedoch nicht das ganze Bild der Bauwirtschaft. Zwar haben ostdeutsche Baufirmen seit März doppelt so viele Aufträge bekommen wie in den Monaten zuvor. Dennoch müssen viele Firmen weitere Beschäftigte entlassen. Vor allem die Kommunen und die Länder treten bislang als Bauherren auf, und im Straßenbau gibt es tatsächlich so etwas wie einen Aufschwung. Im Hochbau, besonders im Wohnungsbau, kann jedoch von Boom noch überhaupt keine Rede sein: Für Geschoßwohnungen gab es im April und Mai sogar wieder weniger Aufträge als Ende 1990.

Das Geld, mit dem im ersten Jahr der Einheit in Ostdeutschland gewirtschaftet wurde, stammt vor allem aus den diversen Förderprogrammen des Bundes. Insgesamt 150 Milliarden Mark werden bis Ende des Jahres in die neuen Länder geflossen sein. Die private Wirtschaft Westdeutschlands bescheidet sich nach neuesten Berechnungen des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung mit 33,5 Milliarden Mark: Um eine Unternehmermark in den Osten zu locken, gibt der Bund in diesem Jahr also rund 4,50 Mark aus.

Diese Steuermilliarden sind, so bilanzieren die Wirtschaftsforschungsinstitute nach einem Jahr deutscher Einheit, eine sinnvolle Investition. Der Aufbau der Verwaltungen „ist gut vorangekommen“, lobt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Die ostdeutschen Gemeindeverwaltungen arbeiten inzwischen systematisch an Flächennutzungsplänen und der Ausweisung von Gewerbegebieten— den Voraussetzungen dafür, daß Firmen Grundstücke nutzen und Gebäude bauen können. Außerdem haben die Kommunen, seit die Bundesregierung im März ihre selbstverordnete Lethargie („der Markt wird's schon richten“) aufgab und das Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost beschloß, in die Infrastruktur kräftig investiert. 40 Prozent der Beschäftigten aus DDR-Zeiten wurden in den Städten und Gemeinden entlassen — dafür wurden allerdings wesentlich mehr Menschen neu eingestellt, so daß die Stellenpläne der Kommunen im Osten laut DIW deutlich besser sind als im Westen.

Die vielbeschworene Talsohle der Ostwirtschaft scheint in weiten Teilen tatsächlich erreicht. Das sei aber, sagen die Forscher vom DIW, noch lange kein Grund für übertriebenen Optimismus. Es dürfe „nicht aus dem Blick geraten, wie tief die Krise und wie lang der Weg zur ihrer Überwindung noch ist“, warnen sie. Denn trotz der hohen Milliardenbeträge, mit denen der Staat die Erneuerung der Wirtschaft fördert und die Produktion stützt, produziert die ostdeutsche Wirtschaft ein Drittel weniger als vor einem Jahr. Und auf dem Arbeitsmarkt ist eine Besserung noch lange nicht in Sicht (s. unten).

Bei einer Befragung ostdeutscher Industrieunternehmen wunderten sich die DIW-Forscher über die „sehr optimistischen Einschätzungen“ ihrer Gesprächspartner. „Es überrascht, daß nur wenige Unternehmen die Qualität ihrer Produkte in Zweifel ziehen“, schreiben die Westberliner Experten. „Erfahrungsgemäß“ verlange die Erschließung neuer Märkte „sehr viel größere Anstrengungen“, als die Manager im Osten für nötig erachteten. Nicht einmal die Hälfte der Unternehmen versuche, durch eigene Anstrengungen neue oder verbesserte Produkte zu entwickeln. „Alarmierend“ finden es die DIW-Forscher, daß die Unternehmer glauben, allein durch Kostensenkung und Verbesserung im Vertrieb am Markt bestehen zu können. Sträflich leichtsinnig sei auch der Optimismus, das Geschäft mit der Sowjetunion wiederbeleben zu können, ohne die Produktpalette zu verbessern. „Ein Konzept, das auf die Produktion wenig anspruchsvoller Güter bei hohen Löhnen setzt, muß letztlich scheitern“, prophezeien die Experten, die sich den erhobenen Zeigefinger in ihrer Analyse schließlich nicht verkneifen können: „Ähnliche Güter werden nämlich auch in Ländern hergestellt, in denen die Löhne niedriger sind.“

Innerhalb Deutschlands werden ostdeutsche Produkte auch weiterhin von Westwaren verdrängt. Im Mai lieferten Westfirmen Waren für 3,9 Milliarden Mark nach Osten; umgekehrt konnten Ostfirmen nur Waren im Wert von 718 Millionen Mark in Westdeutschland absetzen. Und noch immer profitiert vor allem die westdeutsche Nahrungs- und Genußmittelbranche von der Markterweiterung: Sie freut sich über zweistellige Zuwachsraten, während es zu Zeiten der Mauer lediglich ein bis zwei Prozent im Jahr gewesen sind.

Nach wie vor beeinflußt die Einheit die Ökonomie im Westen positiv. Wie groß der Schub aus dem Osten im ersten Jahr nach dem Anschluß für die Westwirtschaft war, hat das Ifo-Institut im Auftrag der 'Wirtschaftswoche' errechnet. Wenn die deutsch-deutsche Grenze geblieben wäre, dann wäre das Wirtschaftswachstum der alten Bundesrepublik nur etwa halb so hoch gewesen. Die Einheit brachte beim Bruttosozialprodukt ein Zusatzplus von 2,4 Prozent. 500.000 Arbeitsplätze entstanden so im Westen — die allerdings fast alle von Zuwanderern und Pendlern aus dem Osten besetzt worden sind. Ausgeblieben ist bislang auch die massenweise Verlagerung von Produktionsstandorten aus Westdeutschland in den Osten. Zwar hat es Arbeitsplatzverluste im Westen gegeben — beispielsweise bei Märklin in Schwäbisch-Gmünd, bei der Hüls AG in Troisdorf, bei SEL in West-Berlin. Die DIW-Arbeitsmarktexperten können aber bisher keine „gesamtwirtschaftliche Wirkung“ erkennen, weil durch den Konsumbedarf im Osten im Westen mehr Arbeitsplätze entstanden sind, als dort verlorengingen.

Im zweiten und dritten Jahr nach der Vereinigung dürften Verlagerungen von Produktionsstätten oder Entscheidungen über neue Fabrikstandorte zwischen West und Ost durchaus heißer umkämpft werden. Schließlich gibt es bereits Prognosen darüber, welche Regionen die gesamtdeutschen Wachstumszentren sein werden und welche unter Arbeitsplatzverlusten werden leiden müssen. West-Berlin, Hamburg sowie die Mittelstädte beidseitig der ehemaligen Grenze gelten unter Experten als die Gewinnzonen. Dahinter bleiben vor allem die Regionen tief im Westen (Düsseldorf, Köln, Bonn, Aachen) und — sehr viel stärker — tief im Osten (Frankfurt/Oder, Vorpommern) zurück.

Dem Neubundesland Sachsen — auch zu DDR-Zeiten die wirtschaftlich stärkste Region — wird die schnellste Anpassung an West-Standards prophezeit. Wie schnell die Einheit der Lebensverhältnisse stattfinden wird, darüber sind die Prognosen der Institute allerdings sehr vorsichtig. Viel hängt davon ab, ob der Bund in den nächsten Jahren weiterhin dreistellige Milliardenbeträge in den Aufschwung Ost wird pumpen können. Angesichts der wachsenden Verschuldung des Staatshaushaltes (siehe Tabelle) dürfte das Jahr für Jahr schwieriger werden.

Für die Menschen in der Neubausiedlung am Dresdner Stadtrand bringt die fleißige Bautätigkeit vor ihrer Haustür übrigens nicht nur Vorteile: Mitten durch ihr Wohngebiet wird in wenigen Monaten die neue Autobahn nach Prag führen — eine der wichtigsten Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen für den Wirtschaftsaufschwung.

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