: Der späte Sieg des Anti-Autoritären
■ Wie im Kinderladen setzen Politiker angesichts wachsenden Unmuts das Recht des Stärkeren durch
Wer in den 70er Jahren auf die eine oder andere Art mit Kindererziehung zu tun hatte, erinnert sich gewiß noch bestens der berüchtigten „anti-autoritären Kinderläden“. Maßgebend bei diesem Konzept war bekanntlich allein Wille und Wohlbefinden der Zöglinge, die Erziehenden verzichteten ganz bewußt darauf, den Vorteil auszuspielen, der ihnen daraus erwuchs, daß sie mehr über die Welt und das Leben im allgemeinen wissen als die lieben Kleinen.
Während die Methode heftig umstritten war und ist und inzwischen das Anti-Autoritäre in den Kinderläden weitgehend aus der Mode gekommen ist, setzt es sich nun, nach der Vereinigung, ausgerechnet dort durch, wo man es am allerwenigsten vermutet hätte: in der Politik. Wie sonst ließe sich erklären, daß mündige Minister, die zumeist studierte Leute sind, sich zu Behauptungen herbeilassen, das Boot sei voll, Deutschland dürfe kein Einwanderungsland werden, und eifriges Herumdoktern am Grundrecht auf Asyl würde die immensen Migrationsströme schon versiegen lassen? Natürlich meinen die beteiligten Stoibers, Wedemeiers und Rühes nicht im Ernst, mit solcher Stammtischlogik sei das Flüchtlingsproblem auch nur zu lindern. Nein, sie berufen sich darauf, daß es inbesondere in den östlichen Bundesländern zu noch schärferer Ausländerfeindlichkeit käme, wenn man nicht wenigstens so tut, als ließen sich die Grenzen wieder verrammeln, die für den freien Verkehr von Waren, Kapital und Kommunikation längst gefallen sind.
Das ist nun der gerade Weg zurück in den Kinderladen, in dem der anti-autoritäre Erzieher nicht etwa dem größeren Max auf die Finger haut, weil er das um einen Kopf kleinere Mäxchen immer verdrischt, sondern fordert, Mäxchen müsse dann eben in einem anderen Sandkasten spielen, damit Max sich verwirklichen kann. Außerdem provoziere der Schwächere den Stärkeren, so daß ihm Rücksichtnahme nicht abzuverlangen sei.
Nicht anders argumentieren die Biedenköpfe des neuen Deutschland, wenn sie fordern, den neuen Bundesländern keine Asylbewerber mehr zuzuweisen. Hoyerswerda oder der Wahlerfolg von Rechtsextremisten in Bremen sind denn auch nicht Anlaß, Mut zur Wahrheit zu zeigen — daß nämlich die Flüchtlingswelle schlechterdings nicht aufzuhalten ist —, sondern zu trotzigem Beharren: Da die Mehrheit des Wahlvolkes offenbar gutheißt, was die Neonazis anrichten, laßt uns die Angelegenheit in Gesetze gießen. Das gibt weniger Radau, im Kinderladen herrscht wieder Harmonie.
Die Entwicklung nahm schon im ersten gesamtdeutschen Wahlkampf ihren Lauf. Da wurde versucht, dem Souverän wider besseres Wissen aufzuschwindeln, die Einigung lasse sich ohne Steuererhöhungen ins Werk setzen, und als man sich schließlich ins Unvermeidliche schicken mußte, dann nicht etwa, weil nun doch geteilt werden sollte, sondern eines ominösen Golfkrieges wegen. Ganz wie im Kinderlagen, wo allenfalls das böse Gesundheitsamt schuld ist, wenn die Racker ihren Krimskrams doch einmal aufräumen müssen. Unterdessen jammert Mäxchen (Ost), weil Max (West) so viel schönere Spielsachen hat, worauf Max ihm Schläge androht, denn sein Papa hätte schließlich mehr gearbeitet als der von Mäxchen.
Wenn nun ausgerechnet Politiker jener Parteien, die seinerzeit schon das Ende der bürgerlichen Gesellschaft heraufdämmern sahen, Zuflucht bei den Gepflogenheiten des Kinderladens suchen, muß mehr dahinter stecken als bloß dumpfer Populismus. Die deutsche Vereinigung, die mit den Umwälzungen im Osten eingetretene neue europäische Unordnung macht den Politikern selbst Angst. Auch wenn sie es besser wissen, pflichten sie bereitwillig den lieben Kleinen bei, die da glauben, heftiges Verschließen der Augen würde die Gefahr schon abwenden.
Dem ist mit plausiblen Argumenten (wie dem, daß das vergleichsweise arme Pakistan mit ungleich viel mehr Flüchtlingen fertigwerden muß als die reiche Bundesrepublik) ebensowenig beizukommen wie mit dem gutgemeinten Ausbruch von Cohn-Bendit oder Fischer, denen da drüben müsse nun endlich das Grundgesetz eingebleut werden.
Das Ganze hat mit einem tiefgreifenden Umbruch zu tun, den die deutsche Einigung hervorgerufen hat: Ließ sich in der satten Bundesrepublik noch kommod leben mit einer politischen Klasse, der, zumindest im konservativen Lager, jegliche Vision abging, macht sich dieser Mangel an Führungsfähigkeit nun schmerzlich bemerkbar. Das Reformpotential der alten BRD sieht sich vor eine Situation gestellt, die ihre auf die Bedürfnisse einer saturierten, aufgeklärten Mittelschicht abzielenden Zukunftsvorhaben scheinbar obsolet gemacht hat. Die Konservativen, die den Bürgern früher statt Blut, Schweiß und Tränen allenfalls höhere Parkgebühren, den Verzicht auf ein 15. Monatsgehalt und Vergnügungssteuern abverlangen mußten, sehen sich nun außerstande, die „unpopulären Maßnahmen“ zu propagieren.
So läßt man die Dinge denn laufen wie im Kinderladen. Angesichts einer Entwicklung, die von Politikern nicht zu steuern ist und eines Zunehmenden Unmuts gerade der „neuen Bundesdeutsche“ gegen die Schwächsten, verfügt man das Recht des Stärkeren — die einzige Hierarchie, die sich auch im anti-autoritären Kinderladen immer wieder durchsetzt. Reinhard Hesse
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