KOMMENTAR
: Die Bittgänge der Demokratie

■ Über das Desinteresse der Welt an Haiti

Die ganze Welt hat den Sturz des ersten frei gewählten Staatsoberhauptes in der Geschichte Haitis verurteilt. Die Wirtschafts- und Militärhilfe des Nordens ist ausgesetzt. Europaweit organisieren haitianische Diplomaten Botschaftsbesetzungen. Die „Organisation Amerikanischer Staaten“ (OAS) diskutiert die Möglichkeit einer koordinierten Militärintervention. Doch ist wohl nicht zu erwarten, daß die USA bei ihrem südlichen Nachbarn militärisch eingreifen, um den ins Ausland vertriebenen rechtmäßigen Staatspräsidenten Aristide wieder in sein Amt einzusetzen.

Ein Ruf der legitimen, international anerkannten Regierung nach militärischer Hilfe zum Sturz der Usurpatoren wäre völkerrechtlich umstritten, aber eine Überlegung wert. Und hätte Castro Soldaten nach Haiti zur Unterstützung Aristides geschickt — Washington wäre heute hellwach. Doch erscheint das Legalitätsprinzip im Zeitalter der machtpolitischen Opportunität schon fast atavistisch. Eine erfolgversprechendere Handhabe wäre die Präsenz von Ausländern, wie 1983 in Grenada und jetzt wieder in Zaire bestens erprobt. Es gibt in Haiti genug US-Amerikaner und genug begründete Furcht vor Instabilität, um ihren Schutz als Vorwand für Einmischung vorzuführen. Bereits jetzt sind zusätzliche US-Marines auf den kubanischen Stützpunkt Guantanamo entsandt — vorsorglich. Doch ist auch hier zu fragen, ob sich ein intervenierendes Land tatsächlich die Mühe machen würde, auch noch Regierungen ab- und einzusetzen.

In die internationalen Protestnoten und öffentlichen Empörungsausbrüche mischt sich ein schaler Beigeschmack der Resignation. Haiti ist nun einmal Haiti, das Land von Voodoo und menschenfressenden Onkelchen („tontons macoutes“), von schwarzen Schurken und verrückten Diktatoren — was macht da schon ein Militärputsch mehr oder weniger? Läßt sich Demokratie damit begründen, daß Haiti vor 187 Jahren aus einer schwarzen Sklavenrevolte als erster freier nachkolonialer Staat Amerikas hervorging? Solche Fragen, von skeptischen, entwicklungsmüden Europäern gestellt, sind provokant. Doch gibt es auf sie auch provokante Antworten: Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Sie ersteht nicht aus einem einmaligen Akt von Staatsgründung und freier Wahl von Volksvertretern. Sie ist ein langfristiger, hochgradig riskanter Prozeß, der darauf abzielt, den Praktiken des gesellschaftlichen Lebens moralische Wertungen vorzuschalten. Und da das gesellschaftliche Leben nicht hinter Mauern stattfindet, ist Demokratie fundamental außenabhängig. In einer Gesellschaft, die nach Jahrzehnten der Diktatur zutiefst autoritär strukturiert ist, kann sie sich nicht allein auf den guten Willen der Gesellschaft stützen, das Ausland muß Interesse zeigen.

Ausländisches Interesse erweckt die Demokratie aber nur dann, wenn Demokratie im Vergleich mit anderen Regierungsformen als stabilitätsfördernd gilt. Und um Stabilität zu erreichen — nicht im Sinne einer fest im Sattel sitzenden autokratischen Regierung, sondern im Sinne der Berechenbarkeit der Zukunft für alle —, benötigt sie wiederum Hilfe von außen, denn die Errichtung komplexerer Regierungssysteme und die Erfüllung sozialer Erwartungen kostet Geld.

Nun hat Aristide in acht kurzen Monaten Hilfszusagen in beträchtlicher Höhe erhalten: insgesamt 242 Millionen Dollar, hauptsächlich von den USA und der EG (zum Vergleich: Benin, seit achtzehn Monaten Afrikas demokratisches Musterland, bekam bisher rund 25 Millionen). Warum — so stellt sich nun die Frage — sollte dieses Geld nicht als Investition in die haitianische Demokratie gelten, nutzbar zur Wiedereinsetzung der legitimen Regierung? Bisher begnügen sich die Geldgeber damit, die versprochenen Gelder einfach zu streichen. Die Wirtschaftshilfe, die Aristide noch gar nicht bekommen hatte, soll die neue Regierung nun auch nicht kriegen. Doch ein dritter Weg ist notwendig zwischen dem machtpolitisch vorbelasteten Instrument der Militärintervention und seinem Gegenteil, dem diplomatischen Residuum der Wirtschaftssanktion. Er läge in der tatkräftigen Unterstützung von Demokraten, unabhängig davon, ob sie sich gerade an der Macht befinden oder nicht.

Wie weit der Weg dahin ist, zeigt die Debatte im UNO-Sicherheitsrat vor wenigen Tagen. Es waren China und Indien, die sich strikt gegen eine Einmischung in Haiti wandten, obwohl es sich bei Aristide um einen Präsidenten handelt, der erst vor einer Woche der UNO-Vollversammlung mit Forderungen wie der eines „Rechtes auf Ernährung“ die entwicklungspolitischen Leviten gelesen hatte. Mehr ist wohl auch dann nicht zu erwarten, wenn Aristide dieser Tage vor der UNO all seine Rhetorikkünste aufbietet. Es steht zu befürchten, daß der gestürzte Präsident allein bleibt, einer von vielen geduldeten und vergessenen Exilanten.

Der erste außenpolitische Akt jeder neuen Demokratie — ob in Haiti, Afrika oder Osteuropa — ist der Bittgang durch die reichen Metropolen der Welt, um die Kosten des Umbruchs zu finanzieren und die von den Diktatoren hinterlassenen leeren Staatskassen zu füllen. Der letzte, wie man sieht, ist wiederum ein Bittgang, um einiges verzweifelter und hoffnungsloser. Dominic Johnson