: Kinder Heroinabhängiger — ein Tabu
Eine Studie beschäftigt sich jetzt mit den Problemen/ Junkie-Kinder sind Risikokinder/ Beschaffungsdruck lastet zusätzlich auf den Eltern/ Nicht selten bahnt sich ein Rollentausch an: Das Kind wird zum Erzieher und Beschützer der Eltern ■ Aus Hamburg Sannah Koch
Die 27jährige Chantal war bereits im fünften Monat schwanger, als sie erfuhr, daß sie ein Kind bekommen würde. Seit drei Jahren heroinabhängig, war sie dem irrigen Glauben unterlegen, daß sie nicht schwanger werden könnte. Chantal freute sich „tierisch“, als der Arzt ihr von der Schwangerschaft berichtete: „Du hättest mir eine Kilo Heroin hinlegen können, ich hätte es weggepustet. So ein Glücksgefühl hab' ich noch nie in meinen Leben gehabt.“
Als ihre Tochter Nicole anderthalb Jahre alt wurde, gab ihre drogenabhängige Mutter sie dennoch in eine Pflegefamilie. Das schlechte Gewissen, Nicole keine gute Mutter sein zu können, hatte gesiegt. Danach stürzte sie völlig in die Drogenszene ab: „Es ging richtig bergab mit mir. Es war so, als wenn ein Stück von mir selber fehlte.“
Chantal ist kein Einzelfall. Etwa 120.000 Heroinabhängige wurden im vergangenen Jahr in der BRD registriert. Ein Viertel von ihnen, so kann man nur vorsichtig schätzen, hat Kinder. Die genaue Zahl weiß jedoch niemand. Anders als in den benachbarten Niederlanden, die sich seit Jahren mit diesem Problem befassen, ist das Thema „Kinder Heroinabhängiger“ hierzulande ein Tabuthema. Nicht nur im öffentlichen Bewußtsein, sondern auch im bundesdeutschen Drogenhifesystem waren die Kinder der Junkies bislang nicht vorhanden.
Aus diesem Grunde kommt dem jetzt erschienen Buch Süchtig geboren (Verlag Rasch und Röhrig) von den Hamburger Autoren Irene Stratenwerth und Josh von Soer eine besondere Bedeutung zu. Denn was die Journalistin und der Suchttherapeut aus den Gesprächsprotokollen mit abhängigen Eltern (Chantal ist eine von ihnen) und deren Kindern herausarbeiteten, könnte für die bisherige Praxis im Umgang mit den Familien wegweisend sein.
Säuglingsheim, Pflegefamilie, Adoption, dies sind die gängigen Eingriffe deutscher Jugendämter, die von Kindern heroinabhängiger Eltern erfahren. Stratenwerth und von Soer plädieren jedoch für ein Zusammenleben, auch wenn sich dies oftmals weder für die Eltern noch für die Kinder als unproblematisch erweist.
Junkiekinder sind Risikokinder: In den 70er Jahren, so ergab eine Studie aus Amsterdam, starb rund ein Drittel der Babies kurz vor oder nach der Geburt. Folge nicht der Heroinabhängigkeit, sondern des schlechten Gesundheitszustands der Mütter. Aber auch heute noch finden schwangere heroinabhängige Frauen nur selten einen Arzt, der ihnen während der Schwangerschaft ein Substitutionsmittel (Ersatzmedikament wie Methadon oder Remedacen) verschreibt und sie damit von dem täglichen Beschaffungsstreß befreit.
Überdurchschnittlich häufen sich auch die Frühgeburten: Viele Mütter schildern, daß sie ihre Babies nach der Geburt weder auf den Bauch gelegt bekommen hätten, noch sie länger betrachten durften. In der Regel werden die Säuglinge unverzüglich in den Brutkasten einer Intensivstation verlegt. „Sie sind zittrig, grau und haben zum Teil Krämpfe, sind besonders unruhig“, so beschreibt die Kinderpsychologin Susanne Börner die Kinder, die schon gleich nach der Geburt unter Entzugserscheinungen leiden.
Für die Eltern beginnt gleich nach der Trennung die Auseinandersetzung mit dem schlechten Gewissen. Statt ihr Baby umsorgen zu können, sehen sie sich, wochen- oder monatelang, mit einem kranken, hilflosen Wesen in einem Glaskasten konfrontiert. Die Schuldgefühle, so belegen die Interviews, verlassen die Väter und Mütter nie. Sie entwickeln sich aber zum wichtigen Erziehungsregulativ: Die Angst, ihr Kind zu vernachlässigen, treibt die Eltern zur ständigen Auseinandersetzung mit ihrem Handeln. So bestätigt Josh von Soer auch: „Heroinabhängige erweisen sich häufig als sehr fürsorgliche Eltern. Wir wissen weder von Inzest noch von Prügeleien.“ Sie leiden jedoch unter ihrer Isolation. Gesprächspartner über Erziehungsprobleme haben die Eltern keine. Staatliche Erziehungsberatungsstellen meiden sie aus Furcht, daß ihnen die Kinder genommen werden. Auch die Kinder, die die Sucht ihrer Eltern selbst vor den FreundInnen geheimhalten, quälen sich meistens alleine mit ihren Problemen.
Ein Drittel sind sehr gute Eltern
„Aus Holland wissen wir“, so erläutert Josh von Soer, der in der Hamburger Drogeneinrichtung „Palette“ arbeitet, „daß rund ein Drittel sehr gute Eltern, ein weiteres Drittel nur mäßige sind und der Rest große Probleme hat“. Die Schwierigkeiten mit den Sprößlingen resultieren jedoch nicht ursächlich aus der Sucht, sondern aus den miserablen Lebensbedingungen, die aus dem täglichen Beschaffungsdruck resultieren.
So schildert Chantal ihren Leidensweg: „Dreimal in der Woche bin ich klauen gegangen, das Kind in der Kinderkarre immer mit dabei. Und dann jede Nacht anschaffen. Ich hab' das psychisch nicht verkraftet.“ Für die abhängigen Eltern sind die Kinder aber trotzdem der letzte Rettungsanker. Einige schaffen durch sie den Ausstieg aus der Szene. Andere, die wieder an ihrer Sucht scheitern, geben sich völlig auf, wenn die Kinder in Pflegefamilien gegeben werden. Auch die Töchter und Söhne äußern trotz aller Schwierigkeiten fast immer den Wunsch, bei den Eltern zu bleiben.
Schon früh werden sie zu MitwisserInnen. Der tägliche Druck, Dealer bei der Arbeit, all dies sind für viele Kinder alltägliche Bilder. So mußte die 30jährige drogenabhängige Ute die Entdeckung machen, daß sie ihre Sucht nicht einmal vor ihrer eineinhalbjährigen Tochter Hannah verstecken konnte. Diese wickelte sich beim Spielen ein Band um den Arm und offenbarte damit, daß sie ihre Mutter beim Abbinden vor der Injektion schon sehr genau beobachtet hatte. Aber nicht selten vollzieht sich im Laufe der Zeit ein Rollentausch: Das Kind wird zum Erzieher und Beschützer der Eltern. Wie die 15jährige Vendla, die in Hamburg mit ihrem drogenabhängigen Vater zusammenlebt. Sie erklärt in Süchtig geboren: „Kinder sollten den Eltern zeigen, daß sie das alles ein bißchen kontrollieren. Mit den Eltern darüber sprechen und nicht darüber schweigen.“
Eine Unterstützung für süchtige Eltern und ihre Kinder: Dies ist in den Niederlanden schon lange Praxis. Hier arbeiten die SozialarbeiterInnen nach der Maxime: „Das Kind bleibt solange wie möglich in der Familie.“ Tageszentren für die Kinder und Erziehungsberatungsstellen für die Eltern gehören dort zum Drogenhilfesystem. Die Bundesrepublik steckt jedoch in dieser Hinsicht noch in den Kinderschuhen: So kämpfen beispielsweise seit einem Jahr Hamburger MitarbeiterInnen des Drogenprojekts „Palette“ darum, mit einem — von der Hansestadt finanzierten Beratungs- und Therapieprojekt für süchtige Eltern und ihre Kinder — einen Anfang zu machen. Bislang aber noch ohne Erfolg.
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