: Stehe schweigend
■ Ein Buch über jüdische Friedhöfe in Berlin
Hier stehst Du/ schweigend/ Doch/ Wenn Du/ Dich wendest/ Schweige nicht steht auf einem Gedenkstein am Eingang des jüdischen Friedhofes in der Schönhauser Allee. Alle elf jüdischen Friedhöfe in Berlin haben solche Steine, erinnern auf die eine oder andere Art an die Millionen Juden — unter ihnen 55.000 Berliner —, die irgendwo umgebracht und, ohne die überlieferten Riten folgende Bestattung, verscharrt wurden. Die Friedhöfe sind das einzige in dieser Größe und Vielfalt erhaltene Zeugnis jüdischen Lebens in Berlin. Daß einzelne Grabsteine seit 300 Jahren erhalten geblieben sind, erklärt sich daraus, daß jüdische Friedhöfe Orte der ewigen Ruhe sind, daß es also, anders als bei den Christen, kein Ende der Ruhefristen, keine Wiederbelegung einer Grabstätte gibt. Der erste jüdische Friedhof im Stadtgebiet entstand 1672 in der Großen Hamburger Straße — 40 Jahre vor dem Bau der ersten Synagoge und immerhin mehr als 400 Jahre nach der ersten urkundlichen Erwähnung von Juden in der Mark Brandenburg. Die Gestapo verwüstete den Friedhof 1943; nur wenige Grabmale blieben erhalten — darunter das des Herrn Gumpericht Jechiel Aschkenasi, der 1672 als erster an der Großen Hamburger Straße bestattet worden war. Andere Friedhöfe sind weitgehend erhalten geblieben; etwa der im 19. Jahrhundert eingerichtete und wohl bekannteste jüdische Friedhof in Weißensee, über den Tucholsky 1925 in seinem berühmten Gedicht schrieb: »Und was er für ein Herz gewesen/ hört stolz im Sarge der Bankier/ in Weißensee, in Weißensee«. Die Pracht seiner Grabstätten verdankt dieser Friedhof zum einen dem Reichtum vieler Juden in den Gründerzeitjahren des Kaiserreichs, zum anderen dem Liberalismus, der fortschreitenden Assimilation, die sich ziemlich unbedenklich auch bei christlichem Brauchtum bediente. Kein Wunder also, daß sich auch im Bestattungswesen eine orthodoxe Abspaltung bildete — 1880 wurde der Friedhof der »Adass Jisroel«-Gemeinde eingeweiht, der jeden Prunk vermeidet: Keine Tempel oder Mausoleen, nur schlichte Grabsteine, Tafeln, Obelisken und höchstens ausnahmsweise ein schmiedeeisernes Gitter.
Daß ich über all das und vieles andere mehr weiß als nur ein paar karge Gerüchte, verdanke ich einem Buch, das 1980 erstmals beim Ostberliner Henschel-Verlag erschien und das inzwischen die vierte »verbesserte und erweiterte« Auflage erreicht hat. Eine Kombination aus Handbuch, grundsätzlicher Einführung in die Materie und Bildband — in allen Aspekten gleichermaßen gelungen. Für den Weißenseer Friedhof z.B., mit 115.000 Grabstellen »die jüdische Nekropolis der Weltstadt Berlin«, bietet ein fast 80 Seiten langes Kapitel neben der Geschichte des Friedhofs auch eine Art Grabstellenführer. Wer ein bestimmtes Grab sucht und weiß, in welchem der alphabetisch benannten »Felder« er liegt, findet auch einen doppelseitigen Grundriß des Geländes. Drei einleitende Kapitel, »Der jüdische Friedhof und seine Besonderheiten«, »Trauerbräuche« und »Die Friedhöfe im Berliner Stadtbild« sind wohltuend knapp, kenntnisreich und geschwätzfrei gehalten. Die unzähligen Schwarzweißfotos zeigen die einfachen, traditionellen Grabstellen ebenso wie die manchmal schon leicht kitschigen assimilierten — oft im Nachmittags-Sonnenlicht oder in leichtem Nebel. Das weiche, halbmatte Papier des Buches scheint für die Reproduktion von Fotos besonders geeignet zu sein: Die Bilder sehen wunderschön aus (und natürlich weit schöner, als es der Zeitungsdruck noch ahnen läßt). Kaum zu begreifen ist der Preis dieses schönen Buches: rührende 29,80. Klaus Nothnagel
Alfred Etzold, Joachim Fait, Peter Kirchner, Heinz Knobloch: Die jüdischen Friedhöfe in Berlin , Henschel-Verlag Berlin 1991, gebunden, 168 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 29,80 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen