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Lebenslänglich kurze Hosen

Jürgen Bartsch, der Lieblingsunhold der Deutschen  ■ Von Willi Winkler

Anfang 1769 meldete sich bei den Wiener Behörden die Dienstbotin Catharina Jacobeckin und renommierte gewaltig. Zwischen 1763 und 1766 habe sie, versicherte sie den Ordnungskräften, insgesamt fünf Menschen umgebracht, es bei einem weiteren zumindest versucht. Meist waren es Kinder, die sie ertränkt und erschlagen hatte. Ihre bloße Existenz sei ihr schon ein Ärgernis gewesen. Die Landstörzerin konnte sich ihre unbändige Mordlust nicht erklären, die Behörden aber wußten sich und ihr zu helfen.

Sie verfuhren mit der Mörderin nach alter Weise. Weil sie „ein besonderes boßhaft grausames Gemüthe von sich hat verspühren lassen“, wurde die Jacobeckin am 10. Februar 1769 auf dem Platz am Schottentor, von wo heute die Straßenbahn nach Grinzing abgeht, hingerichtet. Keineswegs im Schnellverfahren; bei ihresgleichen gab man sich ordentlich Mühe. „Ihr zur wohl verdienten Strafe, anderen ihres gleichen aber zum erspiegelnden Abscheuen“ hackte ihr der Henker die rechte Hand ab, erst dann wurde „sie selber mit dem Schwerdt vom Leben zum Tod hingerichtet“. Nicht die fünffache Mörderin, sondern die Mord-Hand wurde post mortem „am Pranger angeheftet“.

„Gott sey ihrer armen Seele gnädig, und barmherzig“, schließt der zeitgenössische Bericht, nicht ohne allerdings dem geneigten Leser noch ein kleines Gusto-Stückerl zu versprechen: „Die Moral, samt dem Kupfer, worinnen alle 6. Mordarten abgeschildert zu ersehen sind, folgen den 16. März.“

Nach zweihundert Jahren hatte beim Publikum die Freude über öffentlich verhandelte Grausamkeiten kaum nachgelassen. Am 21. Juni 1966 war es endlich gelungen, jene „Bestie“ zu fangen, die damals das Ruhrgebiet terrorisierte, indem sie offenbar wahllos Kinder abschlachtete. Zwischen 1962 und 1966 hatte Jürgen Bartsch vier Jungen zwischen acht und zwölf Jahren in einen Stollen gelockt, sie dort gefoltert, zerstückelt und sich anschließend an ihnen vergangen. Beim letzten Opfer kam er seinem Ideal ziemlich nahe: Er zerfleischte Manfred Grassmann und weidete ihn bei lebendigem Leibe aus. Offensichtlich hatte er seinen Beruf nicht vergeblich erlernt.

Der amerikanische Journalist Paul Moor, der den nachfolgenden Prozeß beobachtet hat, wechselte mit dem Gefangenen über acht Jahre zum Teil sehr umfangreiche Briefe. Als Laientherapeut legte er dem Gefangenen einen Fragebogen zu dessen psychogenem Inventar vor und erfuhr auf die Weise mehr über die Motive des Mörders als das Gericht.

Diese Briefe sind geeignet, auch den Gemütsmenschen um den Schlaf zu bringen, aber ähnlich erschreckend ist die Begeisterung, mit der man sich in den sechziger Jahren einem Zwanzigjährigen widmete, der sein wollte wie Heintje, dabei aber gehaßt wurde wie Rudi Dutschke.

Während montags, mittwochs und freitags gegen Jürgen Bartsch verhandelt wurde, ging es beim gleichen Wuppertaler Landgericht dienstags und donnerstags um ehemalige Polizeibeamte, die 1941 auf Befehl der Wehrmacht zwischen neunhundert und zweitausend Juden in die Synagoge von Bialystok getrieben und sie da verbrannt hatten. Der Leiter der Wuppertaler Staatsanwaltschaft stand wegen seines juristischen Wirkens im besetzten Prag nach wie vor auf der tschechoslowakischen Kriegsverbrecherliste.

Trotz des nimmermüden Einsatzes der Fest-Geschichtswissenschaft ist es der Bundesrepublik bis heute nicht gelungen, diese Vergangenheit wegzutherapieren. Ganz anders bei Bartsch: Mit ihm ließ sich der kurze Prozeß machen, den man ähnlich grausamen, ähnlich systematischen Mördern lieber ersparte, weil man sie allzugut kannte.

Jürgen Bartsch war dagegen unbekannt, er war unbegreiflich böse. Den zeitgenössischen 'Bild‘-Leser brachte zudem auf, daß Bartsch der schöne Angeklagte Kafkas war, aber immerhin verfügte er über das klassische Täterprofil, schließlich war er Metzger. (Seltsamerweise hat bisher niemand einem weiteren Herzbuben deutschen Gemüts, dem Volkssänger Heino, vorgeworfen, daß auch seine erste Wirkungsstätte eine Metzgerei war.) Sein verhaßter Beruf, mit einer Arbeitszeit von 6 bis 20 Uhr, versetzte Bartsch allerdings auch in die Lage, seiner sadistischen Obsession mit chirurgischer Präzision nachzugehen, sich an den Kindern, denen er die Eingeweide herausnahm, für die väterliche Metzgerei zu rächen.

Und war es nicht eine Karriere wie für einen KZ-Wärter: eine TB- kranke Mutter, die ihn zur Adoption freigibt; die ersten elf Monate im Krankenhaus; dann war er schon „sauber“, noch bevor er laufen konnte. Eine Totaloperation hatte die Adoptivmutter Gertrud Bartsch um die Erfüllung ihres Kinderwunsches gebracht. Sie verliebte sich in das fremde Kind; als es zu Hause rückfällig und „unsauber“ wurde, war es mit der Liebe vorbei. Statt dessen wurde Jürgen zur unbedingten Reinlich- und Pünktlichkeit angehalten.

Folgten verschiedene Kindergärten und Heime, ein sadistischer Pater, der mit Schaum vorm Mund durchs Klassenzimmer tobte und unbotmäßige Schüler mit heißem Kerzenwachs auf die Brust folterte; katholische Körperkasteiung. Nach mehreren Ausreißversuchen durfte Jürgen zu Hause bleiben, wo ihn die Mutter mit Bierflaschen und Kleiderbügeln und Pünktlichkeit traktierte.

In diesem Haus mußte Ordnung sein um jeden Preis. Peter Frese, der erste Junge, den Bartsch mit dem Vorsatz, ihn zu töten, in seine Höhle schleppte, überlebte nur, weil Bartsch zu Hause in der Siedlung „Glaube und Tat“ zum Abendessen erwartet wurde. Nach „dieser blöden, schweren Suppe, die ich immer essen mußte“ hatte sich sein Opfer losgemacht. Jahre später führte dessen Hinweis zur Ergreifung des Täters.

19 Jahre war Jürgen Bartsch alt, als man ihn faßte. Seine Mutter hatte ihn bis zuletzt gebadet, weil sie sich nicht denken konnte, daß ein Junge in diesem Alter „sich wirklich sauber kriegte“. Die von den Eltern vorgesehene Freizeitgestaltung sah so aus, daß der Sohn zwischen ihnen auf dem Bett lag und die Familie zu dritt fernsah. Sauber sollte es zugehen: Als ein anderer Junge sich über Jürgens Zudringlichkeiten beschwerte, gab ihm Gertrud Bartsch zwanzig Mark Schweigegeld, die sie ihrem Sohn dann vom Taschengeld abzog.

Und wie sauber er war: Zu seinem vorübergehenden Glück hatte er mit dreizehn die Adoptionspapiere entdeckt. Plötzlich durfte er sich glücklich schätzen, in Jungfernzeugung auf seine Eltern gekommen zu sein. Sie hatten das nicht tun müssen, um ihn zu kriegen.

Das Landgericht Wuppertal verurteilte Jürgen Bartsch wegen Mordes und weiterer gemeingefährlicher Delikte zu fünfmal lebenslänglich Zuchthaus. Psychotherapeutisch aufgeschlossene Sachverständige wurden nicht gehört, dafür die Eltern des Mörders wiederholt vom Richter dafür gelobt, daß sie ihrem Erziehungsauftrag so eifrig nachgekommen waren, obwohl Jürgen nicht einmal ihr eigen Fleisch und Blut war.

Erst in der Revision (die zum großen Teil auch Paul Moors Mühen um eine schriftliche Therapie zu verdanken war) konnte von Pater Pütlitz die Rede sein, von dessen sadistischen Praktiken im Internat, vom nicht weniger totalitären Sauberkeitswahn der Mutter.

1972 brachte Moor seinen Briefwechsel zum ersten Mal als Selbstporträt des Jürgen Bartsch heraus. Damals hatte Bartsch noch vier Jahre zu leben. Den weiteren Briefen ist zu entnehmen, wie sehr sich das Verhältnis der beiden Männer über die Jahre abkühlte. Bartsch erzählte beispielsweise nichts davon, daß er heiraten werde. Dafür erfährt man mehr, als man vielleicht wissen wollte, über die finanzielle Ausbeutung der Goldgrube Bartsch: Zwei Journalisten, Moor und ein Herr Werremeier, raufen sich um Exklusivrechte und Zeitschriften. Wieder ein Kampf im Stollen.

Abstoßend auch ein sog. schriftstellerischer Versuch von Jürgen Bartsch. Der verurteilte Kindesmörder bezog in der Zelle die Zeitschrift 'Eltern‘, an der er sich nicht nur in seinen einsamen Nächten labte, sondern für die er auch etwas schrieb. „Wie schütze ich mein Kind?“ lautete der Titel eines Aufsatzes, in dem Bartsch sich jugendpflegerische Gedanken machte. Ein Vampir, dem der Dentist die Zähne auf normales Kauverhalten geschliffen hat, träumt wahrscheinlich auch weiter von Schwanenhälsen, wenn auch in bester Absicht. Erst nach langen Debatten lehnte 'Eltern‘ den Beitrag ab.

Natürlich war Jürgen Bartsch nicht zu helfen. Seine Mordlust ließ sich weder im Zuchthaus noch durch die anschließende Überweisung in die Heilanstalt wegarbeiten. Sein Sadismus, mit dem er sich für den eigenen erlittenen Schaden entschädigte, war nicht beizulegen, weder durch seine Selbstmordversuche noch durch eine merkwürdige Heirat.

Am Ende sollte es die Kastration sein, das, was der Volksmund für seinen Fall immer als erstes Rezept parat hat. Am 28. April 1976 erlag Jürgen Bartsch einem Herzversagen, Folge einer falschen Anästhesierung. Der Kunstfehler hatte das Volksgewissen beruhigt, hatte das geleistet, was sich viele wünschten, auch Bartsch, wenn man seinen letzten depressiven Briefen glauben kann.

Aber haben seine gräßlichen Untaten, haben nicht Prozeß, Verurteilung und dieser so gerechte Tod nicht auch den anderen, uns, seinem Publikum, geholfen? Wie schön, wenn man sich die Teufel so leicht exorzisieren kann, wenn man über ein Scheusal verfügt, das es nachweislich gewesen ist, ein zweifelsfrei überführtes Ungeheuer, so ganz anders als die Rehses, die Barbies, die Eichmanns und Schwammbergers.

Auf die Frage nach seiner Vorstellung vom Glück hatte Jürgen Bartsch seinem Freund Paul Moor in den Fragebogen geschrieben: „Ein Leben lang kurze Hosen tragen.“

Paul Moor, Jürgen Bartsch: Opfer und Täter. Das Selbstbildnis eines Kindermörders in Briefen. Rowohlt Verlag, 492 S., geb., DM 48,-.

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