Die Freude am ursprünglichen Material

■ In vielen »traditionellen« Berufen sind eher zu viele als zu wenige BewerberInnen/ Nicht alle Meisterbetriebe können die Übernahme der Ausgebildeten in die Firma garantieren/ Noch immer herrschen Vorurteile bei weiblichen Lehrlingen

Berlin. Ein traditioneller Handwerksberuf ist nicht gleich ein aussterbender. »Aussterbend« ist ohnehin ein Begriff, gegen den sich die Berliner Handwerkskammer wehrt. »Ich werde mich hüten zu sagen, welcher Beruf ausstirbt«, antwortet der Pressesprecher Christian Schmaling prompt auf die Anfrage. Geschäftsführer Bernd Babel ergänzt: »Handwerksberufe, die es in Zukunft nicht mehr geben wird, können wir schlecht voraussagen.«

Trotzdem kann er einige aufzählen, für die es »nahezu unmöglich« ist, in Berlin Lehrlinge zu finden: MüllerInnen, SteindruckerInnen, ZupfinstrumentenbauerInnen, GraveurInnen sind nur ein einige davon. Kein Wunder: in diesen Bereichen gibt es zum Teil gar keine Produktionsstätten mehr in Berlin, geschweige denn Betriebe, die Nachwuchs ausbilden. Ansonsten handelt es sich um ganz andere Berufe, bei denen die Handwerkskammer noch offene Stellen vermelden kann. Beton- und StahlbauerInnen klingen ebensowenig traditionell wie FachverkäuferInnen oder GebäudereinigerInnen.

Wer sich für die Arbeit mit Materialien entscheidet, die schon vor 100 Jahren zur Verfügung standen, hat auch meist Spaß an der Ausbildung. Egal, ob es nun die Ausbildung als Orgelbauer, wie Andre Kryger und Markus Krebber, Schuhmacherin, wie Chalune Seiberth, Buchbinderin, wie Antje Möller, oder Reitsattler, wie Sigurd Thiers, ist. Stolz sind sie alle, in einem seltenen Beruf zu arbeiten, einem »Individualistenberuf«, wie Andre Kryger es ausdrückt. Sie genießen es, in der Berufsschule in kleinen Klassen zusammenzusitzen. Die Orgelbauer müssen sogar zum Blockunterricht bis nach Ludwigsburg reisen.

Es mache Spaß, abwechslungsreiche Einzelanfertigungen zu machen, bestätigen alle. Wobei dies nicht generell in diesen Berufen zutrifft. Die 27jährige Buchbinderin Antje Möller erzählt, daß sie von Glück reden könne, da sie bei ihrer Ausbilderin hauptsächlich Einzelarbeiten und -reparaturen zu machen habe. In anderen Betrieben würden häufig nur Reihenarbeiten ausgeführt, wie zum Beispiel das Einbinden eines 'Spiegel‘-Jahrgangs.

Probleme bei der Lehrlingssuche haben bei diesen Berufen die wenigsten Meister. Lediglich der Sattelmachermeister Jochen Hennig beklagt sich über die Schwierigkeiten, einen guten Lehrling zu finden. Der 32jährige Sigurd Thiers ist jetzt bei ihm im zweiten Lehrjahr. Er kommt aus dem Reitsport, daher sein Interesse für die Sattelmacherei. Vorher hatte er 14 Jahre als Pferdewirt gearbeitet — die Umschulung zum Sattelmacher macht er aus gesundheitlichen Gründen.

Ansonsten sind häufigere Bewerbungsschreiben und auch Wartezeiten bis zum Antritt der Lehre die Regel. Andre Kryger machte eine Tischlerlehre bevor er seinen Wunschberuf, Orgelbauer, lernen konnte. Da der Bedarf in noch sehr auf Handarbeit angelegten Berufen nicht groß ist, gibt es häufig mehr BewerberInnen als Ausbildungsplätze.

Ihrem Beruf verbunden bleiben wollen sie alle. Bei der 27jährigen Antje Möller kann die Buchbindermeisterin Ria Tiemeyer allerdings aus finanziellen Gründen nur zusichern: »Wenn ich kann, behalte ich sie.« Zusätzlich wird im Oktober bei der Buchbinderei Tiemeyer ein neuer Lehrling anfangen. Antje, die ein Germanistikstudium abgebrochen hat, um handwerklich mit Büchern umzugehen, will versuchen, ihr Buchbinderkönnen in Richtung Restauration zu perfektionieren.

Bei Chalune Seiberth, die Schuhmacherei lernt, ist das ein wenig anders. Sie schildert, daß in der Berufsschule die meisten von ihren MitschülerInnen eher zufällig in den Beruf gestolpert sind. »Ich bin da die einzige, die die Lehre um der Sache willen macht.« Wie die 21jährige Chalune erzählt, würden »ziemlich viele in der Berufsschule überlegen, ob sie danach etwas anderes machen«. In der Berufsschule sind sie insgesamt zehn Lehrlinge, darunter vier Mädchen. Zwei lernen Schuhfertiger, was einer Art Schuhreparateur gleichkommt. Unter den BerufsschülerInnen ist sie die einzige Abiturientin und die einzige aus dem Westteil der Stadt.

Chalune will hinterher beruflich etwas ganz anderes machen, sie möchte später mit Drogenabhängigen arbeiten. Doch wird sie das Gelernte auch in Zukunft nutzen. Schon jetzt ist sie dabei, sich zu Hause eine Schuhmacherwerkstätte einzurichten, um sich auch künftig selbst Schuhe herstellen zu können. Nach Chalunes Schilderungen scheint der Beruf zwar nicht auszusterben, aber doch zu verarmen. Immer mehr Betriebe würden sich auf die reine Reparatur von Schuhen beschränken. Als sie ihre eigene Werkstatt ausrüsten wollte, hatte sie keine Probleme bei der Ausstattung: »Jeder Meister, den man fragt, der verkauft dir erstmal sein Werkzeug«, sagt sie. »Die Meister sehen gar keine Zukunft mehr für den Schuhmacherberuf. Es ist auffällig, daß sich viele nicht mehr ihre Schuhe selber machen.« Chalune selbst glaubt daran, daß in Zukunft noch Schuhe von Hand gemacht werden. Zum einen gebe es die Theater, die immer Individual-Anfertigungen bräuchten, zum zweiten haben ihrer Meinung nach immer mehr Yuppies genügend Geld, um sich für 800 bis 2.800 Mark Schuhe von Hand anfertigen zu lassen.

Chalune ist froh, an einer Lehrwerkstätte der Komischen Oper ausgebildet zu werden. Im Gegensatz zu den anderen Betrieben stünde bei ihnen noch das Herstellen von Schuhen im Vordergrund, nicht die Reparatur. »Erst beim Suchen nach einer Lehrstelle habe ich bemerkt, wie selten der Beruf inzwischen ist.« Als sie die Lehre anfing, stieß sie auf den Widerstand vieler ihrer Freunde. Diese konnten mit dem Beruf des Schuhmachers nicht viel verbinden, wollten ihr immer dazu raten, doch Goldschmiedin zu werden. Manche seien auch völlig begeistert gewesen, doch: »Für die meisten ist dieser Beruf aus dem Blickfeld geraten.« Aber nach und nach kämen die Leute immer mehr an, um ihr zu schildern, wo sie der Schuh drückt.

Andre Kryger schwärmt mit leuchtenden Augen von seinem Beruf, von der Freude, »das Instrument wachsen zu sehen.« Zum Orgelbau hingezogen hat ihn »die Faszination des Instruments, der Weg von der Taste zum Ton«. Im Gegensatz zu Chalunes Bekannten finden seine Freunde die Lehre gut: »Es ist ein seltener Beruf, da habe ich viel zu erzählen.«

In einem weiteren Bereich scheinen diese Berufe auf Traditionswahrung aus zu sein: bei der Dominanz der Männer. Chalune erzählt, daß sie bei vielen Schuhmachern im Westteil der Stadt Probleme gehabt habe, eine Lehrstelle zu finden: »Einmal bin ich ein Mädchen, zweitens habe ich Abi und zum dritten galt ich als zu alt.« Doch schließlich passierte die kleine »Sensation«. Sie wird von einer 27jährigen Meisterin ausgebildet. Anna Hanke