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Blackout auf halber Strecke

■ Das Varieté Chamäleon präsentiert sein drittes Programm

Hotel oder Absteige? Das merkt der eilig abgestiegene Gast, darin dem Besucher von kulturellen Veranstaltungen nicht unähnlich, meist zu spät. Was von außen noch recht nobel wirkte, erweist sich bei näherem Hinsehen als Falle: Im Zimmer krabbeln Kakerlaken, der Service ist schlecht, das Personal in seine eigenen Intrigen verstrickt. Gewinnsucht tröpfelt aus jeder Mauerritze, eine Situation, die der offensichtlich verheizte Gast nur parieren und sogar umkehren kann, wenn er noch schäbiger, krimineller oder einfach nur ein bißchen verrückt ist. Dann haben die Wirtsleute die Rechnung ohne ihn gemacht.

Rahmenhandlung Hotel — eine solche glaubten die Leute vom Chamäleon wohl nötig zu haben, nachdem sie auf den kolossalen Erfolg ihrer ersten Show Anfang des Jahres prompt einen ästhetischen Rundumausfall folgen ließen. Er hießGeneralprobe und war auch nichts anderes — verschwunden waren die Leichtigkeit und Selbstironie der Darbietung, die bei etwas mehr Beharrungsvermögen schnell zum ewigen Markenzeichen dieses Varietés hätten werden können. Insidern entfährt noch heute ein Seufzer bei der Erwähnung des Clowns Hucky.

Dieses Synonym von doppelbödiger Bühnenpräsenz ist im neuen Programm leider nicht dabei — trotzdem funktioniert die Hotelgeschichte, die Balance des Schreckens zwischen Wirt und Gast, am Anfang recht gut. Dank eines Spion-Inspecteurs — die Art, die Sterne an Betten samt Rundherum verteilt — und seiner Abhörtechniken erfahren wir Interna aus dem Hotelleben: Beischlaf, Eifersucht, Intrigen. Muttersöhnchen Theo, meint die Hotelchefin, würde mit der Empfangsdame Ruth doch ein vortreffliches Hotelierpärchen abgeben. Nur träumt die leider nicht von Theo, sondern von einer Musical- Karriere in New York.

Dann sitzen in der Hotelhalle zwei ältliche Damen und warten auf die Fertigstellung ihres Zimmers. Die eine hat schon tuttelig zu häkeln begonnen, da tauscht sie die Haken plötzlich mit den Griffen des »Diabolos« aus — ein asiatisches Kunststück, bei dem erst ein, dann zwei zylindrische Körper auf einer dünnen Schnur balanciert werden — die andere stößt hinzu, und beide beginnen eine wilde Performance. Ebenso gelungen ist die von einer Männergruppe a capella gesungene Bestellung eines Menus. Im Wechselspiel mit dem Ober — dann beginnen die Bediensteten über den Köpfen der Gäste mit Tellern zu jonglieren — und die schlagen den lateinamerikanischen Rhythmus dazu.

Bei solchen Nummern fällt die Artistik nicht heraus aus der Story eines dubiosen »Hotel California«, sie werden mit einer Beiläufigkeit präsentiert, die um so mehr verblüfft. Die Band spielt vorwiegend jazzige Arrangements, manchmal herrliche Barmusik, dazu haben die Chamäleons mit Sylvia Moss (als Empfangsdame) eine Sängerin engagiert, die das gewisse schwarze Feeling in der Stimme hat. Nicht so spektakulär, dafür umso vielseitiger ist Carolin Schrock: Mal greift das dümmlich blonde Zimmermädchen zur Querflöte, dann jongliert sie und agiert in einer akrobatischen Nummer mit dem Pagen (Michael Korthaus) und dem durch seine Mimik bestechenden Butler (Gilles de Leuch).

Viel Kurzweil also bis zur Pause, die nach einer Dreiviertelstunde fast zu schnell kommt. Man ist neugierig auf die Fortsetzung — nur folgt die nicht. Im zweiten Teil fällt das Programm auseinander, all die artistischen Übungen auf dem Boden und am Trapez können nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Ensemble den roten Faden verloren hat. Es hat der Story seines Programms entweder mißtraut, vielleicht sie auch gar nicht verstanden, zumindest aber nicht zu Ende gedacht. So wohnt man einer beliebig wirkenden Folge von Einzeldarbietungen bei, die teils passabel, teils recht unerquicklich sind: eine Art — Achtung: Varieté im Varieté! — effektheischende Travestieshow.

So will das Programm zu keinem rechten Höhepunkt kommen, und die schwächeren Nummern, die man der Truppe, denn sie kann's ja eigentlich, so gerne verzeihen würde, treten umso greller zu Tage. Damit die Absteige wirklich zum Hotel wird, sollte noch mal ein bißchen nachgedacht und dann kräftig durchgefegt werden. Bernd Gammlin

Varieté Chamäleon, Rosenthaler Str. 40/41 (Hackesche Höfe), Mitte.

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