: Bulgariens Opposition siegt — aber ein „komplexes Patt“
■ Wendesozialisten fügen sich artig in die Niederlage/ Türkische Minderheit schafft den Sprung ins Parlament/ Antikommunismus als Politikersatz
Berlin (taz) — Wie allgemein vorausgesagt, haben bei den bulgarischen Wahlen vom Sonntag die Sozialisten (vormals Kommunistische Partei) verloren, die oppositionelle Union demokratischer Kräfte (UDK) verfehlte aber die absolute Mehrheit. Laut Prognose von insgesamt fünf Meinungsforschungsinstituten wird die UDK zwischen 35 und 38 Prozent der Stimmen erhalten, womit sie bestenfalls auf ihr Ergebnis bei den ersten freien Wahlen vom Vorjahr kommen wird. Die Sozialisten werden auf 33,5 Prozent geschätzt, hätten demnach gegenüber den Vorjahrs-Wahlen fast 15 Prozent eingebüßt. Bei Redaktionsschluß war unklar, ob die beiden Abspaltungen der UDK, das von den Sozialdemokraten beherrschte UDK-Zentrum und die linksliberal-grün orientierten UDK-Liberalen, über die Vierprozentklausel springen werden. Auch die selbständig antretende Bauernpartei pendelt noch um die Vierermarke. Sollte sie es schaffen, so fiele ihr zusammen mit ihrer Konkurrentin, der im Rahmen der UDK kandidierenden zweiten Bauernpartei, eine Schlüsselfunktion bei jeder möglichen Koalition zu. Beide Parteien vertreten die Masse der jetzigen Landarbeiter und künftigen Kleinbauern, die das Erbe der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften antreten werden. Die Bewegung für Rechte und Freiheiten, Organisation der türkischen Minderheit in Bulgarien, kam mit sechs Prozent sicher ins Parlament. Ihre Kandidatur war von Nationalisten aller Richtungen scharf bekämpft worden, sie durfte auch nur als „Bewegung“ antreten, verbietet doch die im Juli in Kraft getretene Verfassung Parteien auf ethnischer Grundlage. Die buntscheckige Schar der weiteren Bewerber, unter ihnen die im Aufwind segelnden Monarchisten, werden draußen vor bleiben.
Wer mit wem? Da der Wahlkampf fast ausschließlich gegen die bulgarischen Sozialisten und die in ihr überwinternden Nomenklaturisten geführt wurde, ist klar, daß niemand mit ihnen koalieren will. Der Vorsitzende der Partei, Alexander Lilow, hat schon vor den Wahlen erklärt, man richte sich auf konstruktive Opposition ein. Jetzt ließ er verlauten, man respektiere den Wählerwillen. Der UDK fehlen selbst dann Stimmen, wenn sie eine Koalition mit der bulgarisch-türkischen Bewegung eingeht. Ein solches Bündnis würde aber angesichts des nationalistischen, gegen die Rechte der Minderheiten auftretenden Strömung in der UDK schwierig werden.
Die UDK und der sie stützende Gewerkschaftsverband „Podkrepa“ fordern Strafverfahren beziehungsweise Funktionsverbote gegenüber ehemaligen kommunistischen Mandatsträgern. Die Realsozialisten werden, wie der Soziologe Ivan Kristev bemerkte, behandelt wie eine nationale Minderheit: „Man wird als Kommunist geboren, als Kommunist stirbt man.“ Die Konzentration auf die vormaligen Unterdrücker verhinderte, daß im Wahlkampf konsistente Programme der ökonomischen Reform zur Abstimmung gestellt wurden. Das Privatisierungsgesetz steht bislang nur auf dem Papier, desgleichen das Gesetz über die Bodenreform. Ohne daß auch nur ein Betrieb „entstaatlicht“ worden wäre, gibt es schon jetzt 180.000 Arbeitslose. Nach dem Verlust des sowjetischen und osteuropäischen Marktes fehlt es den bulgarischen Produkten an Absatzmöglichkeiten, Die Produktion sinkt weiter. Es fehlen Devisen für den Import von Öl und Energie. Die EG und westliche Investoren sind an dem Land noch desinteressierter als an Ostmitteleuropa. Ein radikaler, etwa am Vorbild Polens orientierter Transformationsprozeß hätte mit dem Widerstand einer Arbeiterschaft zu rechnen, in der Gleichheitsvorstellungen tief verankert sind. Die Wendesozialisten sind zwar geschlagen, aber nicht im gleichen Ausmaß diskreditiert wie in den anderen Ländern des vormaligen Realsozialismus. Der im Prinzip zwischen Gewerkschaften, Staat und dem Verband angehender Unternehmer abgeschlossene Sozialvertrag, der gewerkschaftliche und soziale Rechte und — im Gegenzug — ein Stillhalteabkommen festschreibt, ist nicht in Kraft getreten. Eine UDK-Regierung des „raschen Übergangs“ hätte demnach nicht nur die Parlamentsmehrheit gegen sich, sondern auch starke gesellschaftliche Kräfte — einschließlich ihrer eigenen Gewerkschaft. Christian Semler
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