: Sowjetunion ohne Musik
Mit Dmitri Smirnow und Elena Firsowa verlassen die letzten Komponisten von Weltrang die UdSSR/ Nach einer Tournee stellten sie einen Antrag auf Asyl ■ Aus London Ralf Sotscheck
Gerade hatte der britische Innenminister Kenneth Baker auf dem Tory- Parteitag in Blackpool die neuen Asylgesetze vorgestellt, die eine schnelle Abschiebung von „Wirtschaftsflüchtlingen“ ermöglichen sollen, da erteilte sein Ministerium dem sowjetischen Komponistenehepaar Smirnow/Firsowa eine dreijährige Aufenthaltserlaubnis. Dmitri Smirnow, Elena Firsowa und ihre beiden Kinder im Alter von fünf und sechs Jahren hatten vor einem halben Jahr während einer Tournee einen Asylantrag gestellt, weil sie in Moskau ihre Kinder nicht mehr ernähren konnten. „Es gab keine Lebensmittel“, sagte Firsowa am Wochenende. „Dmitri war jeden Tag fünfmal unterwegs, um Milch aufzutreiben. Alle zwei Monate hatten die Kinder Probleme mit den Zähnen.“
Der konservative Staatssekretär David Mellor, ein Liebhaber klassischer Musik, hatte sich persönlich für das Künstlerehepaar eingesetzt. „Es gab schon immer zweierlei Maß bei den Einwanderungsgesetzen“, sagte Alistair Darling, der innenpolitische Sprecher der Labour Party. „Die Regierung ist schnell mit der Verurteilung von sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen bei der Hand. Niemand wird etwas gegen die Aufenthaltsgenehmigung für die beiden Komponisten haben, aber viele Menschen sitzen im selben Boot — bloß können sie keine Musik machen.“
Mit Smirnow und Firsowa haben die letzten KomponistInnen von Weltrang die Sowjetunion verlassen. Beide gehörten der Gruppe an, die die unter Stalin verbotene „Vereinigung zeitgenössischer Musik“ wiedergegründet hatte. Ihre KollegInnen haben sich bereits in den vergangenen Jahren abgesetzt: Alfred Schnittke, Sofia Gubsidulina, Rodion Schtschedrin und Valentin Silvestrow nach Deutschland, Edison Denisow in die Schweiz. Neben wirtschaftlichen Gründen ist vor allem der diktatorische Führungsstil der offiziellen Komponistenvereinigung für die Abwanderungswelle verantwortlich. Die Vereinigung wird noch immer von Tikon Krennikow geleitet. Der 78jährige hat 1948 Stalins Säuberungsaktion unter MusikerInnen durchgeführt und seitdem jede Veränderung überlebt.
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