: Zwischen Religion und Nation
■ Nach Ansicht führender muslimanischer Politiker sollen sich die Angehörigen der drei Nationen Bosnien-Herzegowinas ausschließlich als Staatsbürger fühlen
„Bosnien ist wie ein Märchenstaat. Wenn einer es in Besitz nehmen will, verwandelt es sich. Wollen es die Serben, so wird es zu einem kroatisch-muslimanischen Staat — und umgekehrt.“ Marco Orsolic, der diese Anleihe bei 1001 Nacht macht, ist alles andere als ein Märchenerzähler. Der Gelehrte, Ulema und Leiter des Ausbildungszentrums für moslemische Prediger in Sarajewo, hat in seinem Paß immer noch die Berufsbezeichnung „Hilfsarbeiter“ eingetragen. Erst seit der demokratischen Wende unter Präsident Izetbegovic wird die theologische Ausbildung anerkannt. Sichtbares Zeichen des Wandels: die Eröffnung der Fakultät für moslemische Studien an der Universität Sarajewo.
Unterm Realsozialismus war es nicht leicht, gläubiger Moslem zu sein. Wer Karriere machen wollte, tat sich am besten bei Verfolgungsaktionen hervor, wie der bosnisch- muslimanische Funktionär Posderac, der seinen Job als Mitglied des jugoslawischen Staatspräsidiums für Bosnien dem Prozeß gegen den gläubigen Moslem Izetbegovic verdankte. Die kleinstädtische moslemische Intelligenz wandte sich dem Kommunismus zu, nur die Bauern hielten zäh am tradierten Glauben fest. Für Marco Orsolic eröffnet die neue Religionsfreiheit endlich die Chance, zwischen den gläubigen Moslems und der „muslimanischen Nation“ in Bosnien-Herzegowina zu unterscheiden. In den Moscheen Sarajewos und Mostars beten nicht nur moslemische Landeskinder, sondern auch in großer Zahl Moslems aus Albanien und Mazedonien. Aus ihnen allen wird sich künftig die moslemische Gemeinde zusammensetzen. Im Gegensatz dazu stünde dann die muslimanische Nation in Bosnien und Herzegowina, die in einer spezifischen, kulturell-ethnischen Tradition des Landes verwurzelt ist, ohne eindeutig religiös definiert zu sein. „Man kann Atheist und gleichzeitig bosnisch-herzegowinischer Muslimane sein“, sagt Orsolic überspitzt.
Die Muslimanen bilden heute eine der drei die Republik Bosnien-Herzegowina konstituierenden Nationen. Ihr politischer Arm, die „Demokratische Aktion“ (SDA) stellt den Präsidenten. Mit der Partei der Kroaten, der HDZ, und der der Serben, der SDS, ist man in einer Koalition verbunden. Nach der Vorstellung führender muslimanischer Politiker sollen sich die drei Nationen als Mitglied der größeren, bosnisch- herzegowinischen Nation fühlen, eines Staates, der nicht auf dem ethnisch-nationalen Prinzip beruht, sondern ausschließlich auf der Staatsbürgerschaft.
Adil Zulfikarpasic, steinreicher, aus der Schweiz ins Heimatland zurückgekehrter bosnischer Muslimane, will noch einen Schritt weiter gehen. Die Muslimanen sollten sich als Bosniaken verstehen, um die Verbindung zur Religionsgemeinschaft zu durchschneiden. Sie wären dann ausdrücklich nicht die führende, aber die Kern-Nation der Republik.
Die Muslimanen haben sich bis zur Selbstverleugnung für die Einheit der Republik und die Bewahrung des Friedens eingesetzt. Sie haben auf Provokationen der serbischen Seite mit Vorsicht, auf glatte Verfassungsverstöße mit Verhandlungsangeboten reagiert. Diese Strategie zieht die Konsequenz aus dem Bürgerkrieg der 40er Jahre, der nirgends so blutig war und mit solch einer irrsinnigen Konsequenz geführt wurde wie in Bosnien-Herzegowina. In dieser Umsichtigkeit und Toleranz steckt auch ein Stück regionaler islamischer Tradition. „Wenn Allah gewollt hätte, daß alle Menschen an ihn glauben, hätte er die Welt entsprechend geschaffen“, sagt Marco Orsolic. „Islam ist Frieden“, fährt er fort, und — nach einer künstlichen Pause — „der Kampf gegen das Böse“. Christian Semler
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