: Leiden auf Griechisch
■ Das Attis-Theater Athen im Künstlerhaus Bethanien
Unter dem Stichwort »Leiden« findet man im Lexikon (neben einer holländischen Stadt!) einen als »Nichtseinsollenden empfundenen Zustand«. Er kann sich verschieden auswirken: je nach geistiger Einstellung wird er entweder passiv ertragen oder löst klagendes Empören gegen das Geschick aus. Was im Lexikon nicht steht: Klagelaute können je nach Intensität und Phonstärke auch den potentiellen Zuhörer in Mit- Leidenschaft ziehen — wie im Fall des Attis-Theaters Athen. Während ihres Berlin-Gastspiels im Künstlerhaus Bethanien präsentieren sie zwei Stücke aus ihrem Repertoire, in denen mal so richtig gejammert werden darf — ein befremdliches Martyrium, zumindest für den griechischunkundigen Zuschauer.
Das Attis-Theater beginnt mit den Persern von Aischylos, der ältesten überlieferten Tragödie aus dem klassischen griechischen Theater. Sie beschäftigt sich — im Gegensatz zu anderen erhaltenen Dramen aus dieser Zeit — nicht mit einer mythischen, sondern einer zeitgenössischen Thematik: Der Perserkönig Xerxes verliert den scheinbar schon gewonnenen Krieg gegen die Griechen. Ein Bote überbringt Atossa die schlechte Nachricht, der Mutter des Besiegten. Atossa, Dareios (der orakelnde Geist von Xerxes Vater), ein klassischer griechischer Chor und Xerxes selbst monologisieren über ihre Emotionen zur Niederlage (weitere Details zum Inhalt mitzuteilen sieht sich die Rezensentin außerstande, da sie einerseits kein Griechisch beherrscht und andererseits die versprochenen Übersetzungsprojektionen kommentarlos ausfielen). Dieses sehr statische Stück gilt gemeinhin als unspielbar. Regisseur Theodoros Terzopoulos versucht dem Stück eine Sinnlichkeit zu geben, indem er Bilder und stilisierte Bewegungen aus alten Volksbräuchen und naturreligiösen Riten verwendet. So tragen alle Darsteller Kothurne, zirka 20 Zentimeter hohe Holzblöcke unter ihren Füßen, wie sie im klassischen griechischen Theater verwendet wurden. Die damals üblichen Masken sind in Andeutungen vorhanden, kalkweiß die Gesichter geschminkt, und von unten angeleuchtet erscheinen die Schauspieler wie Statuen auf ihren Sockeln. Harmonisch fügt sich die Ausstattung in die Säulengänge des Aufführungsortes ein, und zufrieden macht man es sich auf den DIN-A4- Blatt großen und ebensodicken Schaumstoffkissen bequem. Doch einstündiges pathetisches Deklamieren zerstört jede positive Erwartungshaltung. Mal jammert der eine Darsteller, die anderen fassen sich dabei in regelmäßigen Abständen an den Kopf, dann rudert der nächste mit den Armen in der Luft wie ein Fisch auf dem Trocknen, der nach Luft schnappt, der Rest schüttelt sich. Ekstatische Bewegungen und Wehklagen lösen sich ab, eine apokalyptische Vision soll heraufbeschworen werden — derjenige, der Sprache und Symbole nicht nachvollziehen kann, bleibt außen vor. Die Schauspieler sind nicht die einzigen, die danach völlig verausgabt eine Pause nötig haben, manch passiven Delinquenten sieht man nach seinem abgestorbenen Hintern greifen.
Bevor nun Heiner Müllers Quartett beginnt, liest der Autor höchstselbst aus seinem Stück Zement die Prometheus-Passage vor. Stoffelig wie immer, läßt es sich Heiner Müller nicht nehmen, erst eine griechische Kollegin zu charmieren, Küßchen hier und Küßchen da, bevor er das Leiden des Prometheus schildert, der den Menschen das Feuer brachte und zur Strafe von Zeus an einen Felsen gefesselt wurde. Zweimal dreitausend Jahre hat es gedauert, bis Herakles ihn befreien konnte. Der Text hat durchaus seine humoristischen Seiten (»Nur am Geschlecht war die Kette mit dem Fleisch verwachsen, weil Prometheus, wenigstens in seinen ersten zweitausend Jahren am Stein, gelegentlich masturbiert hatte.«), und zusammen mit der konsequent teilnahmslosen Darbietung des Autors bildet er den erquicklichsten Teil des Abends.
Die alles verzehrende Liebe von Valmont und der Merteuil, die nicht nur sie selbst, sondern auch andere ins Unglück stürzt, ist ein guter Anlaß für Terzopoulos, wieder tief in die tragische Gefühlskiste zu greifen. Man muß das Stück ja nicht — wie Müller zur Zeit im Deutschen Theater — fast schon als Klamotte inszenieren, aber etwas von seinem bitterbösen Humor sollte doch zu spüren sein. Schwamm drüber — fliehenden Zuschauern wurde der Ausgang verwehrt (»Ihr stört jetzt!«), der Rezensentin glückte das Entkommen durch einen Seitenausgang. Kulturelle Unterschiede und unbekannte Metaphern mögen eine Erklärung sein, unkomfortables Sitzen und schlechte Sicht eine andere: so jedenfalls ist dieser Krampf nicht zu ertragen. Anja Poschen
Noch bis zum 20. 10. im Künstlerhaus Bethanien, Mariannenplatz, täglich 20 Uhr
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