Ketzer und Prophet

Seit zwei Wochen darf der Priester Eugen Drewermann nicht mehr an der Theologischen Fakultät Paderborn lehren Seine Anhänger sehen darin einen Bann, seine Kritiker finden die Strafe eher harmlos  ■ VON CORNELIA FILTER

Hocherfreut laßt uns heut Ehr' und Dank ihm bringen“, schallt es durch das Gemeindehaus der St.- Georgs-Pfarrei. Es ist ein verregneter grauer Morgen, und die Katholiken, die sich wegen des Umbaus ihrer Kirche im Pfarrsaal zum Hochamt drängeln, haben Schirme und Plastikhauben mitgebracht. Pfarrer Albert Petermann liest das Evangelium vom Kamel, das eher durchs Nadelöhr geht als ein Reicher ins Himmelreich. Es ist der 28. Sonntag nach Ostern und der erste, nachdem der Paderborner Erzbischof Johannes Joachim Degenhardt seinem Priester Eugen Drewermann die theologische Lehrbefugnis entzog. Doch was hat die Georgs-Pfarrei damit zu schaffen?

„Er hat Ideen, die kann man nicht immer teilen“

Eine Gemeinde von typischen Sonntagschristen, so will es auf den ersten Blick scheinen. Kleine Leute leben hier, rings um die Kaserne der britischen Rheinarmee am Rande des Zentrums: Bundesbeamte, Bankangestellte, Arbeiter und Aussiedler. 4.000 sind es insgesamt, und sie halten es nun schon seit sechzehn Jahren mit Eugen Drewermann aus, den manche einen Ketzer nennen. Er ist wie viele Priester, die nicht als Pfarrer arbeiten, ein „Subsidiar“, er verrichtet einen „Teildienst in der Gemeinde“, liest jeden Samstagabend um 18 Uhr die Vorabendmesse und mutet seinen Georgsschäfchen in seinen Predigten oft einen Menge zu. „Er hat Ideen, die kann man nicht immer teilen“, sagt eine alte Frau, die nach dem Sonntagshochamt ihren klemmenden Knirps vergeblich auszubreiten versucht, „und einige von uns gehen nicht mehr hin. Aber die meisten halten doch zu ihm.“

Pfarrer Albert Petermann weiß um die Schwierigkeiten, die viele seiner Gemeindemitglieder mit dem vermeintlichen Ketzer haben. So zieht er viele Auswärtige an, die nur, um ihn zu hören, in den Samstagsgottesdienst kommen und den raren Platz im Pfarrsaal okkupieren. „Jeder freut sich, wenn er in der Kirche Bekannte trifft. Hier sieht er vornehmlich Fremde. Das ist manchmal belastend“, erzählt Petermann, der Anrufern trotzdem bereitwillig Auskunft gibt, ob und wann Drewermann die Vorabendmesse liest.

Zum Entzug der Missio seines Amtsbruders äußert sich der Pfarrer jedoch nicht. Für ihn steht fest: „Herr Drewermann ist nach wie vor Priester. Ich sehe keine Veränderung, was diese Gemeinde angeht.“ Intolerante Sonntagschristen? So einfach bekommt man Paderborn, wo einst heidnische Sachsen hausten, nicht in den Griff. Und sogar Erzbischof Johannes Joachim überrascht mit ungeahnten Seiten. So ist er nun mal, der Vetter des linken Liedermachers Franz-Josef Degenhardt, zudem duzte er sich bis vor wenigen Jahren mit seinem Freund Eugen.

An dem Samstag nach Entzug seiner kirchlichen Lehrerlaubnis predigt Drewermann nicht. Seine Anhänger, die oft Hunderte von Kilometern weit fahren, um nach der Messe ein paar Worte mit ihm zu wechseln, ihm die Hand zu drücken oder sich seine Bücher signieren zu lassen, sind vergeblich gekommen. Der Verehrte, so heißt es, sei unterwegs: ein Vortrag in München, ein anderer in Baden-Baden, eine Talkshow und die Buchmesse. Viele wollen ihn sehen, wollen ihn über die Bergpredigt sprechen hören, gieren nach seinen tiefenpsychologischen Märchendeutungen, folgen ihm von Ort zu Ort.

In seinen Vorlesungen, die er bis Juli jeden Samstagmorgen um acht Uhr im Audimax der Theologischen Fakultät des Erzbischofs hielt, waren Studenten eher die Ausnahme. „Warum der Bannstrahl gegen einen Theologen“, fragte sich darum sogar die konservative Zeitung 'Die Welt‘, „der als Privatdozent — anders als seinerzeit Hans Küng — in keinem Beamtenverhältnis steht, außerhalb der üblichen Vorlesungszeiten... seine (gleichwohl überfüllten) Veranstaltungen abhält, an denen zuletzt sechs Priesteramtskandidaten teilgenommen haben?“

„Ein Anwalt für die Menschen, die in der Kirche leiden“

Die Nonne Schwester Veritas schneidet jede seiner Vorlesungen mit, die er im gleichen Singsang wie seine Predigten und seine Reden gegen den Golfkrieg vorträgt, in der für ihn typischen manirierten Sprache. Schwester Veritas verschickt die Kassetten mit seinen Worten in die ganze Welt.

Warum besuchen seine AnhängerInnen seit vielen Jahren jeden Samstagmorgen die Vorlesungen Drewermanns? Warum werden sie es auch am 9. November wieder tun, wenn er, der neue Lehrbeauftragte des Fachs Soziologie, in die Universitäts-Gesamthochschule Paderborn umzieht und dort über das Matthäus- Evangelium spricht („Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“)? Sie ist Mitte sechzig, Mutter und Großmutter, Paderbornerin und streng katholisch erzogen. Eine ehemalige Klosterschülerin. „Ich habe immer nur den strafenden Gott gekannt“, sagt sie, „Drewermann vermittelt mir den verzeihenden, liebenden.“

„Drewermann ist ein tief frommer Priester, der in den Fußstapfen Jesu geht“, findet Veronika Schumacher. Die pensionierte Lehrerin ist Sprecherin des Drewermann-Solidaritätskreises, der halbjährlich 2.700 Rundbriefe verschickt. Sie informieren über den neuesten Stand der Auseinandersetzung des Priesters mit seinem Bischof, geben Vortragstermine bekannt und listen Neuerscheinungen von Drewermann- Büchern auf; allein im letzten Rundbrief waren es fünf.

„Er ist zutiefst Seelsorger“, sagt Schumacher, „er verurteilt nicht, er nimmt an. Er ist Anwalt für die Menschen, die in der Kirche leiden. Dazu kommt seine ungeheure Bescheidenheit und seine Genialität.“ Das alles fasziniere die Menschen so, „daß sie ihm förmlich nachlaufen“.

„Noch nie“, schreibt eine selbsternannte „Atheistin“ in einem Leserbrief, sei sie von „irgend jemandem oder etwas so angerührt“ worden: „Drewermann könnte der reinkarnierte Jesus sein.“

Die Bewunderer des vermeintlichen Ketzers sind zahlreich, auch in Paderborn. Dort sammelte der Drewermann-Solidaritätskreis im vergangenen Jahr, als schon einmal der Entzug der Missio zu drohen schien, 25.000 Protestunterschriften. Die ihn ablehnen, sind eher die Ausnahme, auch bei den Klerikalen.

Den Paderborner Erzbischof beispielsweise „schmerzte es sehr“, seinem ehemaligen Duzfreund die Lehrbefugnis entziehen zu müssen, und er forderte Drewermann ausdrücklich auf, sich weiter in der Öffentlichkeit zu äußern.

Die siebzehn Professoren der Theologischen Fakultät kritisierten in einer Stellungnahme zwar die „exzessive Philosophie der Subjektivität“ ihres geschaßten Kollegen und die „polemische Konfrontation mit der Kirche“, räumten aber gleichzeitig ein: „Wir sind der Überzeugung, daß seine Anstöße einer existentiellen Aneignung der Offenbarung und einem tieferen Verständnis der biblischen Botschaft dienen könnten.“

Der Chefredakteur der Paderborner Kirchenzeitung 'Der Dom‘ bekannte offen, daß er aus Drewermanns Büchern „den Mut zum Weitermachen in der Kirche“ erhalten habe. „Er hat die Gabe und Gnade“, schreibt Hermann Multhaupt über Drewermann, „Worte zu finden, nach denen diese Welt hungert.“

Die ihn wirklich ablehnen, sind papsttreue Hardliner wie Kardinal Meisner aus Köln und Erzbischof Dyba aus Fulda. Dieser nennt Drewermann, der selbst einmal ein Hardliner war und als Studentenpfarrer die ökumenische Studentengemeinde Paderborns zerschlug, schlicht einen „Scharlatan“. Die schärfste Kritik an dem Priester und Tiefenpsychologen, der die Dogmen der Amtskirche in Frage stellt, üben andere Kirchenkritiker. Der Schweizer Tiefenpsychologe und Ex- Priester Martin Odermatt forderte Drewermann öffentlich auf, die Kirche zu verlassen und unterstellte dem „innerlich ungemein getrieben, gespannt und gehetzt“ Wirkenden ein „ausgeprägtes Geltungsbedürfnis“ und „einen Wahrheitsanspruch, der ein Stück weit dem verfällt, was er der Kirche vorwirft“.

Der Paderborner Autor und Journalist Wolfgang Brosche schrieb, Drewermann habe die „Leidensmiene eines Märtyrers“ und „das Charisma eines Sektenführers“. Auch Dieter Schellong, Professor für protestantische Theologie an der Paderborner Universität, hält seinen katholischen Kollegen für einen Demagogen. Schellong erinnert sich, „wie frühzeitig in Paderborn von Anhängern um Drewermann der Nimbus der drohenden und so herbeigeredeten Verfolgung ausgebreitet wurde und wie bis heute von Drewermann dieser Heiligschein nicht zerstört, sondern aufgebaut“ werde. Der „Ruch des Verfolgtwerdens“ sei das „sicherste Mittel, um eine treue Anhängerschaft zu bilden und zu halten“. Dies berühre ihn, so der Theologieprofessor, „außerordentlich unangenehm“: „Die geistige Führer- und Gefolgschaft ist nicht nur christlich, sondern auch politisch alles andere als unschuldig. Schon deshalb bin ich außerstande, mich mit Drewermann zu solidarisieren.“

Was macht den Priester und Tiefenpsychologen, der voller Widersprüche steckt, so anziehend für viele Menschen?

Da ist der Asket, der kein Fleisch ißt, der keinen Kühlschrank, kein Auto und kein Telefon hat und der den Großteil seiner Einkünfte verschenkt. Aber da ist auch der perfekte PR-Mann, der sich in den Medien fast wie ein US-amerikanischer Fernsehprediger vermarktet, der massenwirksame Auftritte inszeniert mit Tiersegnungen und Spendenübergaben, der alles gleich zum Buch macht, weil beispielsweise seine Paderborner „Reden gegen den Krieg“. Da ist der Priester, der Liebe predigt, Güte, Empfindsamkeit und Heiterkeit, aber selbst ganz und gar ernst ist und unberührbar wirkt.

Der katholische Theologieprofessor Peter Eicher, der Drewermann seit zwei Jahren als Anwalt gegenüber der Amtskirche vertritt, versteht seine Mandanten als „einen postmodernen katholischen Romantiker und Lebensphilosophen“, der „haarscharf das Stimmungsgefüge in der Bunderepublik trifft“. Der „Hauptgrund seiner Resonnanz“, so Eicher, sei „die Vergewisserung der Existenz angesichts von Strukturen, die uns als Subjekte überflüssig machen“: „Er macht jede Biographie groß in der Dramatik ihrer Existenz vor Gott.“

„Gerade die Menschen hier in Paderborn“, erklärt Dieter Schellong die Faszination, die Drewermann auf die Marktfrau wie auf den Ingenieurwissenschaftler ausübt, „empfinden Religion als doktrinär und aufgezwängt, so daß sie sich nicht verinnerlichen können.“ Drewermann entlaste sie von diesem „Autoritätsdruck“, in dem er „religiöse Dinge als menschlich“ darstelle. Schellong, der hinter Drewermanns sanfter Fassade einen „Machtmenschen“ vermutet, „eine Art Superpriester“: „Wenn ich Bischof wäre, wäre ich ihm dankbar. Wir würden Hand in Hand arbeiten.“

Drei Dozenten im vergangenen Jahr „verloren“

Und Drewermann selbst? Was will er eigentlich? Darüber schweigt er sich sehr beredt aus. Was er nicht will, sagt er zuweilen. Beispielsweise eine neue Kirchenspaltung, die er zum gegenwärtigen Zeitpunkt für unmöglich hält. Auch glaubt er nicht an einen Reformierbarkeit der Amtskirche. Was bleibt ihm dann? In einem Aufsatz über sein großes Vorbild, Friedrich von Spee, der die Kirche kritisierte, ihr aber nie den Rücken kehrte, vergleicht Drewermann, der seit fünfundzwanzig Jahren Priester ist, den Jesuiten Spee mit dem Augustinermönch Luther: Während für diesen „die Ablaßfrage nur den Auslöser“ gebildet haben, „um die gesamte Frage der menschlichen Existenz (...) zu thematisieren und damit dem eigenen Ich zum Durchbruch zu verhelfen, wird Spee in eine Auseinandersetzung hineingezogen, die er selber innerhalb der Grenzen beläßt, die von der eigenen wie der kollektiven Angst ihm vorgezeichnet werden.“

Auch Drewermann kennt seine Grenzen, und er wird in der Kirche bleiben genau wie Spee, der an der alten Jesuiten-Universität zu Paderborn den Schluß seiner berühmten Cautio Criminalis schrieb.

Heute ist die Universität nur noch eine Theologische Fakultät, und eine Woche nach Entzug der Drewermannschen Missio durch den Magnus Cancellarius Erzbischof Degenhardt kommen in ihrem Auditorium Maximum Studenten, Professoren und Honoratioren zur „Akademischen Jahresfeier“ zusammen. Rektor Hubertus Drobner begrüßt die in Roben gewandten „Exzellenzen und Magnifizenzen“, die sich „zur Eröffnung des 378. Studienjahres die Ehre geben“.

Drei Dozenten habe man im vergangenen Jahr „verloren“, einen durch Tod, einen zweiten durch den Ruf an eine andere Hochschule und einen dritten durch Entzug der Lehrerlaubnis, sagt der Rektor, der zuvor, aus Angst vor studentischem Protest, seine Hausmeister angewiesen hat, die Türen zu verschließen. Doch niemand demonstriert vor der einstigen Jesuiten-Universität, die 350 Jahre zuvor auch auf Friedrich von Spee verzichtet hat, den der Bischof nicht mehr als Lehrer haben wollte.