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Die Leute werden high davon

Ein Gespräch mit Peter Phillips (Tallis Scholars) über Renaissance-Musik als Droge und das Problem einer authentischen Musizierpraxis  ■ Von Christoph Wagner

taz: Sie sind ausschließlich an geistlicher Musik der Renaissance interessiert, nicht an weltlicher. Wie kommt das?

Peter Phillips: Das ist falsch, ich bin an beidem interessiert. Aber man muß sich spezialisieren. Es ist unmöglich, sich mit der gesamten Vokalmusik der Renaissance zu befassen. Das ist zu wenig spezifisch, zu allgemein. Wenn wir versuchen würden, alles zu machen, würde wahrscheinlich die Qualität unserer Aufnahmen darunter leiden. Die weltliche Musik der Renaissance ist der geistlichen Musik verwandt, aber sie erfordert eine andere Gestaltung. Die weltliche Musik wird mit nur einer Stimme pro Stimmlage gesungen. Das wäre für uns eine völlig andere Perspektive.

Sie haben sich spezialisiert, nicht nur auf geistliche Musik, sondern auch auf eine bestimmte Epoche — die Renaissance. Was ist Ihr spezielles Interesse an diesem Zeitalter?

Ursprünglich war ich nur an Musik interessiert. Und daß es gerade Renaissance-Musiik war, war eher Zufall. Als ich mich dann mit dieser Musik beschäftigte, begann sich auch ein Interesse für die Malerei dieser Zeit und die Architektur zu entwickeln. Spannend dabei ist, daß die Renaissance-Architektur eigentlich schon zur nächsten Geschichtsepoche hintendiert, während die Renaissance-Musik noch dem Mittelalter verhaftet ist. Ich bin mehr und mehr fasziniert von dem ganzen Spektrum der Künste und welche Unterschiede oder auch Parallelen es zur Musik gibt. Anfangs war mein Interesse rein musikalischer Natur: Ich liebe Polyphonie. Ich mag die intellektuelle Herausforderung von Musik, welche nicht sofort beim ersten Hören erkennbar ist. Das gilt für Bach, den größten Kontrapunktisten, den es je gab, das gilt aber genauso für Josquin de Pres.

Sie sind ja bekannt für Ihren eigenwilligen Stil, ihre interpretatorische Handschrift. Hatten Sie eine Vorstellung oder eine Vision davon, wie Vokalmusik der Renaissance klingen könnte oder sollte?

Ich glaube, eine Ahnung davon entwickelte sich bei mir ungefähr im Alter von 18 Jahren. Ich hörte Kirchenchöre und war interessiert an ihrer Musik. Ich sang in einem Chor, und dabei sammelte ich Erfahrungen mit dem Repertoire. Aber der Klang, dieser spezielle Klang? Ich hatte ihn das erste Mal — aber nur sehr vage — gehört, als ich nach Oxford kam und einer Gruppe begegnete mit dem Namen „The Clerkes of Oxenford“, die von meinem Lehrer David Wulstan geleitet wurde. Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen. Ich mochte die Musik schon zu dieser Zeit, aber außer der Musik produzierten sie noch einen Klang, der mir so perfekt erschien, daß ich dachte: Das ist es! So muß es sein! Es gibt nichts Schöneres. Und seither versuche ich nur immer wieder diesen Klang zu reproduzieren. Ich höre in meinem Kopf den perfekten Klang und bemühe mich jedesmal, ihm so nahe wie möglich zu kommen. Manchmal gelingt es, manchmal nicht. Bei einer Schallplattenaufnahme ist er leichter zu erreichen. Man singt das Stück fünf- oder sechsmal und wählt den Track aus, der dem Klangideal am nächsten kommt. Konzerte sind natürlich weniger perfekt. Aber manchmal sind auch hier die Umstände so anregend, daß wir besser singen, als wir es je in einem Aufnahmestudio könnten, mit all den Mikrophonen.

In England hat die Vokalmusik eine große Tradition. Es gibt mehrere vorzügliche Ensembles, die sich auf reine Gesangsmusik spezialisiert haben: das Hilliard Ensemble, The Sixteen oder The Gothic Voices. Alle sind mehr oder weniger spezialisiert auf ein bestimmtes Repertoire und haben ihren eigenen Stil. Was ist der Unterschied zwischen diesen Gruppen und ihrem Ensemble, den Tallis Scholars?

Der unterschiedliche Stil hat mit der Konstruktion der Gruppen zu tun, mit ihrer Besetzung. Wir besetzen jede Lage mit zwei Stimmen. Das hebt uns von allen anderen Gruppen ab. Das Hilliard Ensemble setzt in jeder Lage nur eine Stimme ein, was es mehr zu einem Madrigalensemble macht, so auch die Gothic Voices, die darüber hinaus manchmal noch Instrumente verwenden, was wir niemals tun. Im Gegensatz dazu singen die Sixteen mit zwei, drei und vier Stimmen in jeder Lage, was Auswirkungen auf den Klang hat. Unser Klang ist leicht, da wir nur zwei Sänger(innen) pro Stimme haben. Es ist also kein Chor, aber auch keine Solistengruppe, wie das Hilliard Ensemble. Es gibt kein Wort dafür, aber ich würde es ein Kammervokalensemble nennen. Der Klang ist hoffentlich geschmeidig und beweglich und exakt in der Stimmung. Präziser gestimmt, als es ein größerer Chor je sein kann. Wir erreichen die Klangfülle eines Chors, aber sind kleiner. Darüber hinaus ist unsere Besetzung authentisch: Die meisten Kathedralen-Chöre hatten jede Stimme mit zwei Sängern besetzt.

Früher hieß es: „In der Kirche hat die Frau zu schweigen!“ Es gab Knabensoprane und Countertenöre für die Altlage. Sie dagegen setzen Frauenstimmen ein, was einer streng authentischen Aufführungspraxis widerspricht. Welches sind Ihre Gründe?

Knabenstimmen sind unmöglich. Wir könnten nichts anfangen mit zwölf- und dreizehnjährigen Jungen. Es geht einfach nicht. Und von wegen Authentizität: Ein Knabe des 16.Jahrhunderts existiert nicht mehr. Dieser Mensch ist als Typus evolutionsgeschichtlich nicht mehr verfügbar, weil vor 400 Jahren der Stimmbruch viel später einsetzte. Heutzutage hat man Stimmbruch mit zwölfeinhalb, damals manchmal erst mit achtzehn. Das ist ein Wandel des menschlichen Körpers, der ein Fragezeichen hinter jede Art von Authentizität macht. Auch wenn wir wollten: wir können gar nicht mehr authentisch sein. Wir werden niemals erfahren, wie die Chöre im 16.Jahrhundert geklungen haben. Deshalb bedeutet Authentizität für mich, daß man das Beste aus der Musik herausholt. Ich will, daß der Klang der Diener der Musik ist. Und zwölfjährige Jungen produzieren nicht den richtigen Klang für diese Art von Musik.

Das Markenzeichen der Tallis Scholars ist ihr reiner Klang. Sie stellen hohe Anforderungen an Ihre Sänger. Welche Qualitäten muß ein Sänger haben, um ein Tallis Scholar zu werden?

Ich mache kein Probe-Vorsingen, weil ich danach nie beurteilen kann, wie gut jemand ist. Normalerweise verläuft es so: Meine Sänger(innen) — alles Profis, die noch in anderen Ensembles in London singen — empfehlen mir neue Leute und ich probiere sie dann aus — in Proben oder gleich im Konzert. Ich verlaß' mich auf den Rat meiner festen Sänger(innen), aber ich nehme auch ein Risiko auf mich, wenn ich sie direkt im Konzert ausprobiere. Manchmal geht es daneben. Die Gruppe ist allerdings flexibel genug, eine Schwachstelle auszubügeln — aber nur eine oder zwei zur gleichen Zeit.

Zu welchem Zeitpunkt nehmen Sie dann die Stücke auf Platte auf?

Das ist unterschiedlich. Ich habe bemerkt, daß, wenn man ein Stück zu gut kennt, das die Aufnahmen erschweren kann. Die Sänger sind gelangweilt, und dann sollen sie es im Studio nochmals fünf- oder sechsmal singen. Unweigerlich gibt es Einwände: Wir haben es einmal nahezu perfekt gesungen, warum müssen wir es noch einmal singen? Dagegen: wenn sie es nicht so gut kennen und es ist ein wirklich gutes Stück, dann sind sie glücklich, es fünf- oder sechsmal singen zu dürfen, und sie beginnen, sich für die Musik zu interessieren. Es wird dann zu einer intellektuellen Herausforderung.

Die Vorbereitung eines Stückes erfordert viel Arbeit. Manchmal gibt es nicht einmal moderne Ausgaben der Komposition. Die müssen dan erst erstellt werden. Wie sieht die Vorarbeit in musikologischer und musikhistorischer Hinsicht aus?

Ich persönlich habe dafür heute kaum noch Zeit. Aber ich kann auf Forschungen zurückgreifen, die ich vor Jahren gemacht habe und die in einem Buch (Peter Phillips: English Sacred Music 1549-1649, Oxford 1991) jetzt publiziert wurden. Als Akademiker ist das englische Renaissance-Repertoire mein Fachgebiet. Zum Beispiel basiert die Tomkins-Schallplate (The Tallis Scholars: Thomas Tomkins — The Great Service, Gimell-Records 024), die erst kürzlich erschienen ist, auf meinen Recherchen für dieses Buch. Bei Isaac (The Tallis Scholars: Heinrich Isaac — Missa de Apostolis, Gimell- Records 023) haben wir jemanden engagiert, der die Edition für uns bewerkstelligt hat. Wir versuchen, wenn es möglich ist, am Originalmanuskript zu arbeiten. Man kann daraus viel über die Musik lernen. Oft

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fehlen kleinere Teile, und dann muß der Herausgeber den fehlenden Teil dazukomponieren. Das ist eine Tüftelarbeit — sehr spannend. Zwei meiner Sänger sind Experten auf diesem Gebiet — Sally Dunkley und Francis Steele. Niemand von uns hat überschüssige Zeit, und die Edition eines Stücks erfordert einen riesigen Arbeits- und Zeitaufwand. Normalerweise heuern wir einen Spezialisten an, der das für uns macht.

Wenn man ihre Plattenveröffentlichungen anschaut, bemerkt man, daß die Tallis Scholars dem 16.Jahrhundert den Vorzug vor dem 15.Jahrhundert geben. Hat das mit den verfügbaren Editionen zu tun, oder sind dafür andere Gründe ausschlaggebend?

Nein, die Editionen sind nicht der Grund. Wenn wir ein Manuskript haben wollen, bekommen wir es auch, wenn wir wissen, wo es sich befindet. Wir lassen uns die Mikrofilme kommen und prüfen, ob die Edition seriös gemacht ist. Nein, ich würde gerne mehr Musik des 15.Jahrhunderts aufführen, aber der Chor hat von Anfang an vor allem Musik des 16.Jahrhunderts gesungen und seine Besetzung ist darauf ausgerichtet, was sehr ungeeignet für frühere Musik ist. Zum Beispiel haben wir vier Sopranstimmen. Aber im 15.Jahrhundert waren Sopranstimmen eine Seltenheit. So könnte ich plötzlich vier meiner Sängerinnen nicht mehr einsetzen. Manchmal machen wir das, etwa bei der Obrecht-Aufnahme, die gerade in Arbeit ist — die Messe Maria Zart. Es ist die längste Messe, die mir je untergekommen ist: 67 Minuten. Im 16.Jahrhundert gibt es so etwas nicht.

Sie haben mit Ihrem Konzept großen Erfolg und eine wachsende Anhängerschaft. Was, denken Sie, versuchen die Leute in Ihrer Renaissance-Musik zu finden?

Sehr schwierig. Nur ganz wenige kommen aus rein religiösen Motiven in unsere Konzerte. Aber viele kommen aus einer vagen Ahnung heraus, daß es da vielleicht doch noch etwas Größeres gibt, als sie und ihre kleine Welt. Sie finden, daß die Musik sie aus sich herausführt und ihnen eine Idee gibt, wie undeutlich auch immer, von einem weit größeren geistigen Raum. Auf der anderen Seite ist es ja sehr eingängige Musik. Es ist schön, ihr zuzuhören. Man braucht nur den Klang zu hören, und schon ist man ergiffen. Es ist wie eine Art Droge. Manche können nicht genug davon kriegen. Sie können kaum mehr aufhören, egal, was für Musik es ist, solange sie im Renaissance- Stil ist und diesen Klang hat. Die Leute werden high davon. Ich mag das. Das ist wunderbar — sehr aufregend.

Ich will Sie zum Abschluß mit einer sehr englischen Frage konfrontieren. Es gibt hier dieses Radioprogramm „Desert Island Disc“, wo Leute gefragt werden, welche Platten Sie auf eine einsame Insel mitnehmen würden? Was wären ihre drei Favoriten?

Ich nähme die Metamorphosen von Richard Strauß mit oder ein anderes der großen Strauß-Stücke. Aber, oh je, allein auf einer Insel und dann noch dieMetamorphosen — vielleicht würde ich so depressiv werden, daß ich Selbstmord begehen würde. Dann müßte ich mich wohl entscheiden, ob ich Nielsens fünfte Symphonie oder die siebte von Sibelius mitnehmen würde. Und als dritte würde ich zweifellos ein Renaissance-Stück wählen. Wenn es mir vorher gelingen würde, von Ockeghem die Missa Prolationum zu finden , würde ich die mitnehmen, weil sie so extrem mathematisch kompliziert ist, daß es wohl Jahre dauern würde, um alles zu verstehen, was in dieser Musik vor sich geht.

Der Gesamtkatalog der Tallis Scholars (auf Gimell Records) über: Connaisseur-Musik, Waldstraße 62, 7500 Karlsruhe, Tel. 0721/25612.

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