Gegen das Diktat der Hetero-Norm

Bei einem Symposium über Lesbenforschung wurde ein Überblick über die bisherigen Ergebnisse präsentiert/ „Lesbenforschung ist keine Minderheitenforschung“  ■ Von Dorothee Winden

Berlin (taz) — „Feminismus ist die Theorie, Lesbianismus die Praxis“, dieser Schlachtruf der Lesbenbewegung aus den 70er Jahren geht auf einen sinnentstellenden Übersetzungsfehler zurück. Der berühmte Satz, der als Geburtshelferin der Lesbenbewegung gilt, ist so nie gefallen. Die amerikanische Feministin Ti- Grace Atkinson, der dieser Satz zugeschrieben wird, sagte im Gegenteil: „Feminism is a theory; Lesbianism is a practice.“ (Feminismus ist eine Theorie, Lesbianismus ist eine Praxis). Was ursprünglich durch ein Semikolon fein getrennt war, wurde durch ein Komma und die Verwandlung des unbestimmten in einen bestimmten Artikel in einen Kausalzusammenhang gestellt. Damit war der Lesbianismus als revolutionäre Praxis des Feminismus geboren.

Diesen Irrtum aufzuklären ist ein Ergebnis von Lesbenforschung. Sie richtet sich aber nicht nur gegen die Mythenbildung in den eigenen Reihen, sondern vor allem gegen eine männlich dominierte Wissenschaft, die Lesben über Jahrzehnte als „abweichend“ und „krankhaft“ stigmatisiert hat.

Zu einer Bestandsaufnahme der Lesbenforschung im deutschsprachigen Raum kamen am Wochenende in Berlin über 80 Wissenschaftlerinnen zusammen. Historikerinnen, Ethnologinnen, Philosophinnen, Literatur- und Sozialwissenschaftlerinnen aus der Bundesrepublik, der Ex- DDR, Österreich und der Schweiz trafen sich zu einem Gedankenaustausch über ihre Arbeitsergebnisse. Außer Christina Schenk und Ursula Sillge, zwei prominenten Vertreterinnen der Lesbenbewegung aus der Ex-DDR, waren jedoch keine Lesben aus den östlichen Bundesländern vertreten. Organisiert wurde die Tagung „Facetten deutschsprachiger Lesbenforschung“ von den beiden Wissenschaftlerinnen Sabine Hark (Berlin) und Hanna Hacker (Wien).

Was ist Lesbenforschung? Nach dem Verständnis der Wissenschaftlerinnen eine Forschung von Lesben über Lesben. In Abgrenzung zur Frauenforschung, die das Verhältnis der Geschlechter untersucht, geht es der Lesbenforschung um die Erkundung des Verhältnisses zwischen Frauen. Ausgangspunkt ist eine lesbisch-feministische Gesellschaftsanalyse, die das Diktat der heterosexuellen Norm in Frage stellt.

Als ein Ziel von Lesbenforschung nannte eine Teilnehmerin daher auch „die Aufhebung der heterozentrierten Norm“. „Lesbenforschung ist keine Minderheitenforschung“, stellte eine Teilnehmerin klar. Es geht vielmehr darum, gesellschaftliche Verhältnisse zu verändern.

Die Etablierung einer eigenständigen Lesbenforschung ist auch eine Reaktion darauf, daß die Frauenforschung die Lesben weitgehend ignoriert hat.

Wie notwendig Lesbenforschung ist, zeigte der Bericht einer Psychoanalytikerin über ihre Erfahrung in der Ausbildung. „Es gibt in Deutschland immer noch ein heimliches Berufsverbot für Homosexuelle an analytischen Instituten“, stellte sie fest. Sie selbst wurde bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz Anfang der 70er Jahre von zwei Instituten abgelehnt. Sie hatte im — bei solchen Bewerbungen üblichen — Lebenslauf angegeben, mit Frauen zusammenzuleben. Die Ablehnung wurde damit begründet, daß Homosexualität eine „schwere Charakterstörung“ sei. Auch nachdem sie einen Ausbildungsplatz gefunden hatte, wurden ihr Steine in den Weg gelegt. Sie flog durch eine Zwischenprüfung, wegen „Identitätsstörungen“. Jahrelang mußte sie ihre lesbische Identität verstecken. Ein Dozent sagte ihr, Homosexuelle könnten keine guten Psychoanalytiker sein.

Dahinter steht die Vorstellung der in der Psychoanalyse immer noch recht unangefochtenen Defizienztheorie, die heute noch an vielen Instituten gelehrt wird. Demnach weisen Lesben „Entwicklungsrückstände“ auf, da sie im Alter von vier Jahren keinen „Objektwechsel“ von der Mutter zum Vater vollzogen hätten.

„Heterosexuelle Männer nehmen auch keinen Objektwechsel vor, aber niemand würde deshalb auf die Idee kommen, sie deshalb zu pathologisieren“, führt die Psychoanalytikerin gegen die Defizienztheorie ins Feld. „Da mir immer diese pathologischen Gebäude übergestülpt wurden, fand ich es für mich existentiell, daß ich eine eigene Entwicklungstheorie erarbeite.“ Daß sie damit auf den „knallharten Widerstand“ in ihrer Zunft stieß, ist nicht verwunderlich. Mehrere Fachzeitschriften lehnten ihren Artikel, der Grundannahmen der Tiefenpsychologie in Frage stellte, mit fadenscheinigen Begründungen ab.

Eine ganz andere Erfahrung machte dagegen Hanna Hacker mit ihrer Dissertation über „Frauen und Freundinnen. Studien zur ,weiblichen Homosexualität‘ am Beispiel von Österreich“. „Ich habe irritierend viel Anerkennung bekommen, auch von anerkannten Wissenschaftlern, so daß ich mich schon gefragt habe, ob ich etwas falsch gemacht habe.“ „Die Befürchtung, daß die Beschäftigung mit Lesbenthemen die Karriere verderbe, könne man heute ja zum Glück widerlegen,“ so Ilse Kokula aus Berlin, die seit 17 Jahren über Lesben forscht.

Die Angst, möglicherweise diskriminiert zu werden, sei oft größer als die tatsächliche Diskriminierung, stellte Lising Pagenstecher (München) fest. Angesichts der gesellschaftlichen Liberalisierung in den vergangenen 20 Jahren sei die Diskriminierung von Homosexuellen geringer worden, deshalb müßten sich Lesben „von der liebgewordenen Negativheimat ,Diskriminierung‘ verabschieden“. In der Anfangsphase der Lesbenbewegung habe die Diskriminierung identitätsstiftend und als Basis für einen starken Zusammenhalt gewirkt, doch jetzt müsse die Fixierung auf die Diskriminierung aufgegeben werden, forderte Lising Pagenstecher. Es sei an der Zeit, über Erfolge bei der Überwindung von Diskriminierung genausoviel zu reden wie über Diskriminierungserfahrungen. Sie verlangte von den Lesben, ihre Lebensweise positiv und selbstbewußt nach außen darzustellen — nicht zuletzt, um Lesben, die immer noch mehr oder weniger versteckt leben, zu motivieren, sichtbarer zu werden.