Ein hybrider Charakter

Über den Regisseur Ivan Stanev, der seit drei Jahren die Theater leert  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Seine braunen Augen sind weit aufgerissen. Dieser Mann hat Angst, daß man tiefer in ihn hineinsieht, als er aus sich herausschaut. Er schluckt. Er spricht über die Welt, den Osten und den Westen. Wenn einer seiner langen Sätze wider Erwarten abreißt, schließt er die Augen für etwas länger als ein Zwinkern, wie um den Zweifel des Gegenübers abzuwehren. Aber sein Gegenüber, den holländischen Fernsehinterviewer, sieht man nicht. Man sieht nur Ivan Stanev.

So weit Deutschland reicht, verdirbt es die Kultur, sagt der junge Bulgare, und schreibt den Satz Nietzsche zu. Die Ausrottung alles Fremden habe in Deutschland schon lange vor den Nazis begonnen. Nietzsche sei von den Nazis vereinnahmt worden, „eine Ironie des Weltgeschehens“. Die „ganze“ deutsche Nation wolle zur Zeit die Polen nicht reinlassen, „weil die schmutzig seien“.

Jetzt beobachtet er den „friedlichen Sieg des Hitlerschen Erbes“ im Rahmen der EG. Die Menschen in Schweden — er fügt zögernd hinzu: und in Norwegen — seien „kaum von der Bewußtlosigkeit eines Tieres zu unterscheiden“. Dieser Satz, der von seiner Logik her in keinem philosophischen Proseminar hingenommen würde, wird von Stanev nicht korrigiert. EG oder Nicht-EG, Subjekt oder Objekt, Nebensatz oder Hauptsatz: Es kommt nicht so genau drauf an. Stanev behält die Welt im Blick: Konsum, Schmerz, Politik, Geschichte. Er ist rundum kompetent. Er liebt Umkehrung und Steigerung: Die Russen seien amerikanischer als die Amerikaner. Westliche Staaten seien kommunistischer als der Kommunismus. Alles geht „immer schneller und schneller“. Die Industrie befindet sich im Wettbewerb mit dem Tod.

Ivan Stanev ist vor drei Jahren aus Bulgarien nach Deutschland gekommen. Der Rückweg war noch versperrt. Stanev, Absolvent der Theaterhochschule in Sofia (im Fach Regie), war mit einer Inszenierung des dortigen Staatstheaters zur Heiner- Müller-Werkschau nach Berlin eingeladen worden. Stanev hatte Büchners Woyzeck mit Müllers kurzem Text Bildbeschreibung verschnitten und etwas Hölderlin beigegeben. Obwohl (oder weil) auf bulgarisch aufgeführt, gab es etliche begeisterte Stimmen. Eine davon war die Henning Rischbieters, Chef von 'Theater heute‘. Rischbieter sah in Stanevs Inszenierung „eine höchst kunstvolle, blendend intellektuelle und kraftvoll zerstörerische Rummelplatzversion“ des Woyzeck; von allen vier Inszenierungen mit mehr oder weniger Müller-Material die „nachhaltigste“. Rischbieter zeigte sich beeindruckt von dem „leises, präzises Deutsch sprechenden Regisseur“, der sich an Adorno und Benjamin geschult habe.

Verbrannte Erde

An diesem Punkt beginnt die Karierre des Westregisseurs Ivan Stanev, als deren vorläufiger Höhepunkt die Berliner Premiere (seines eigenen Textes) Hermaphroditus gelten kann: ein paar Dutzend Zuschauer am vergangenen Wochenende im Hebbel-Theater, einem traditionellen und gemütlichen Spielort mit ein paar hundert Plätzen. Stanevs Mentor, Henning Rischbieter, macht sich in der Pause davon.

In den drei vergangenen Jahren hatte Ivan Stanev etliche Chancen, sein Handwerk, das sich im späten Sozialismus Schiwkows als widerständig gezeigt hatte, unter drastisch veränderten Umständen unter Beweis zu stellen. Statt dessen haben seine Aktivitäten eine skandalöse Spur hinterlassen, die Stanev zu Unrecht als Bestätigung seiner Arbeit versucht hat umzudeuten.

Gestützt wurde der Regisseur zunächst vom Direktor des Studiotheaters in München, Gunnar Petersen. Um Stanev zu ermöglichen in Deutschland zu bleiben, hatte Petersen sich deutlich über den Rand der Legalität hinausgelehnt und Stanev mit einem Anstellungsvertrag versehen, der über das tatsächlich gezahlte Gehalt weit hinausging. Stanev, der selbstgewählte, nichtprofessionelle Schauspieler mitbrachte, erwies sich im Verlauf der Proben als unberechenbar, mischte in den Pinter-Text Passagen von Heiner Müller, zerstritt sich mit Schauspielern und Leuten des Theaters, mußte im Rahmen der selbstgeschaffenen katastrophalen Entwicklung zwei Wochen vor der Premiere eine Umbesetzung in der Hauptrolle hinnehmen und hatte mit seiner Inszenierung nicht den geringsten Erfolg. Nebenbei verteilte er Pamphlete, in denen er sich auf „beißende“ Weise (Petersen) des Münchner Retortenstadtteils Perlach annahm, äußerte sich abfällig über das Theater, das ihn trug, und hinterließ, wo er sich blicken ließ, verbrannte Erde. Schauspieler, bei denen er sich mit aller Selbstverständlichkeit einquartiert hatte, geraten heute noch ins Brüllen, wenn sie Stanevs Namen hören.

Nach seinem Mißerfolg, den Petersen ihm jetzt noch nachsieht, weigerte sich Stanev, am Studiotheater weiter zu inszenieren. Gleichzeitig bestand er aber auf der Erfüllung des Vertrags, von dem ihm bekannt war, daß er zu seinen Gunsten manipuliert worden war. Er drohte mit einer Klage gegen die Stadt, aber kam mit seiner Forderung schon beim Bühnenschiedsgericht nicht durch. Derweil verkaufte er die Münchner Produktion als Gastspiel nach Holland, wo er sich wahrheitswidrig als Koproduzent ausgab und als solcher auf die Plakate setzen ließ. Von der Gage, die er in Amsterdam aushandelte, gab er nur drei Fünftel nach München weiter und behauptete dort, mehr sei nicht gezahlt worden. Wo er hinkam, verkündete er listig blinzelnd, man müsse „schlau sein“. Um seinem Ideal Heiner Müller näherzukommen, rauchte er gewaltige Zigarren.

Müller, der die Arbeit mit den Staatsschauspielern in Sofia für gut befunden hatte, zeigte sich anfänglich ebenfalls bereit, dem Theatermann zu helfen. Er vermittelte Stanev an das literatur- und kommunikationswissenschaftliche Graduiertenkolleg in Siegen, damals Modellversuch und erste Adresse im akademischen Betrieb. Das Kolleg wollte mit dem Künstler, der sich nun gelegentlich auch als „Philosoph“ bezeichnete, einen Versuch wagen und entband ihn von der Verpflichtung, während der zweijährigen Förderdauer an einer Dissertation zu arbeiten, und mäßigte auch die Anwesenheitspflicht zu seinen Gunsten. Stanev seinerseits entschädigte die neugierigen Literaturwissenschaftler mit gelegentlichen Seminaren im Verlauf des ersten Semesters, konnte im zweiten Semester Lyotard vorführen, versprach als nächstes Heiner Müller nach Siegen zu bringen und ließ dann nichts mehr von sich hören. Das Kolleg erkannte, daß „die Interessen zu weit auseinander lagen“, und kündigte Stanev die Förderung nach dem ersten Jahr. Die Spiegel aus den Männertoiletten, die sich der Stipendiat für eine Inszenierung geliehen hatte, fehlen in Siegen heute noch.

Ein Zug von Paranoia

Ivan Stanev, dem der deutliche Widerstand der Institutionen, gepaart mit dürrer Resonanz beim Publikum, nicht entgangen sein konnte, trat die Flucht nach vorn an. Mit seinem Stück Schuld und Bühne (Chor: „Die Gesetzbücher/ sind die Falle der Eunucher./ Nur der Metzger/ hat sein eigenes Gesetzger.“) gab Stanev sein Debüt als deutscher Textautor. Das Hebbel-Theater, eine Berliner Spielstätte mit Subvention, aber ohne eigenes Ensemble, stützte das Projekt des hybriden Regisseurs, der seine Truppe aus nachgereisten bulgarischen StaatsschauspielerInnen und engagierten LaienschauspielerInnen rekrutiert hatte. Ohne irgendwelche Zeichen eines Erfolgs förderte das Hebbel-Theater auch das nächste gänzlich selbstgemachte Projekt Stanevs, Hermaphroditus, das vom Mickery in Amsterdam, vom Festival „Theater der Welt 91“ in Essen und von der Kampnagelfabrik in Hamburg koproduziert wurde, also erste Adressen des Off-Theaters im westlichen Europa.

In einem Pamphlet, das in Theatern, Redaktionen und Szenekneipen in maßloser Auflage angeschlagen (und, sobald abgerissen, von neuem übergeklebt) wurde, deutete Stanev sein Projekt als ultimativen Widerstand gegen die Fratze der sozialen Marktwirtschaft, an der der Regisseur sich offensichtlich nicht schnell genug hatte bereichern können: „Mit einem stillen Putsch hat die reiche Mittelschicht der Restauration auf den Thron verholfen, demokratisch zeigt sich nur noch die nicht vorhandene Zensur: Wem es hier nicht gefällt, darf in die Tropen gehen.“

Eine Idee, die Stanev nicht weiter verfolgt hat. Statt dessen hat er keine Gelegenheit ausgelassen, die westeuropäischen Verhältnisse knallhart zu analysieren, und zwar laut: „Rechtsradikaler als jede rechtsradikale Partei ist die Kulturindustrie und die ihr unterstellten Medien.“ Das Vokabular hat er von Adorno umgestellt auf die wirksameren Franzosen, und sein Theater verkauft er als philosophische Herausforderung des Theaters. Deutlich zeichnet sich unter der Hybris ein Zug von Paranoia ab. Stanevs Theater ist nicht etwa ein Mißerfolg, sondern Opfer subtilster Unterdrückung.

So war nichts Gutes zu erwarten, als Stanev sich zu Beginn seiner Berliner Premiere auf die Bühne stellte und unter Rekurs auf Shakespeare und Beckett zum besten gab, daß, wenn es sein Theater des „Lachens mit dem Unterleib“ damals schon gegeben hätte, das Dritte Reich nicht möglich gewesen wäre.

Auf Täuschung gebaut

Hermaphroditus wurde von staksigen und unsicheren Schauspielern eröffnet und entwickelte sich zu einer Nummernrevue, bei der sieben Spieler in diversen grotesken Kostümen und Masken im Laufe des Abends beachtliche Leistungen zeigten. Stärke des Abends war die Komik, und je kruder der Witz, desto besser kam er über die Rampe: Leute, die sich am Hintern zunähen wollen, um das Problem der „Kanalisation“ in den Griff zu kriegen, und üble Szenen dilettantischer Chirurgie, wie man sie von „Sketchen“ im Landschulheim kennt — nur weit komischer. Sämtliche Aussagen Stanevs zu seinem Theater, von dem verhetzten Pamphlet bis zu seinem holländischen Fernsehinterview, erwiesen sich als pure Hochstapelei: Wenn Stanev etwas kann, dann ist es Kabarett, wobei es ihm allerdings gelingt, mit drastischen Bildern und bisweilen überraschenden Sätzen, die Grenze zum absurden Theater zu überschreiten, und das in durchaus anrührender Weise. Alle Passagen, in denen er auch nur entfernt versucht, eine Reflexion von Theater über Theater in Gang zu bringen oder den Figuren Philosopheme in den Mund zu legen, die unter dem Niveau des Publikums liegen und über dem der grotesken Figuren, mißlingen vollkommen und nehmen den Szenen ihr Tempo. Erstaunlich, wie skeptisch die wenigen Zuschauer sich mit ihrem Beifall zeigten, als wüßten sie, daß man dem aufgeblasenen Ego eines Stanev keinen Vorschub leisten darf.

Schade nur für die verantwortlichen Bühnen und für die beteiligten Schauspieler selbst, daß ihr tyrannischer Chef-aller-Gattungen sein Theater so schlecht, weil unter völlig falschen Prämissen verkauft. Er wäre gut beraten durch eine kritische Regieassistenz oder Dramaturgie; und Pressearbeit und Werbung müßten unbedingt die Theater an sich ziehen, die bei einem Stanev-Projekt etwas zu verlieren haben; nämlich Geld, das für andere Projekte fehlt, wenn die Zuschauer ausgeblieben sind.

Der Betrieb ist nicht so dumm, wie Stanev glaubt. Auch wo der „postmoderne“ Bruch mit der stringenten Form, mit der Einheitlichkeit des Werks unmäßige Aufmerksamkeit erfährt, reagiert der Kulturapparat dennoch sensibel auf Personen, deren Verlangen nach Zuwendung heimlich oder demonstrativ auf Täuschung gebaut ist.