: Marie I, Marie II
■ Vera Chytilovás 67er Film »Tausendschönchen«
Tausendschönchen strapaziert die Augen mit irritierenden Bildern. Und spielt mit unserer Lust, beim Betrachten hinter der Oberfläche einem tiefgründigen Sinn nachzuspüren. Zu beschreiben, was 70 Minuten lang zu sehen ist, fällt schwer. Das Gesehene eindeutig zu entschlüsseln, ist unmöglich. Offensichtlich scheint nur, daß die tschechische Regisseurin Vera Chytilová 1967 Lust hatte, mit Bildern zu interessieren und dabei vor unseren Augen tradierte Erzählstrukturen zu zerstören.
Tausendschönchen ist wie ein Netz aus sorgfältig komponierten Tableaux vivants. Die Figuren bewegen sich kalkuliert genau wie Marionetten an unsichtbaren Fäden. Zwei junge Frauen (MarieI/Ivana Karbanová, MarieII/Jitka Cerhová) tragen karierte Bikinis oder gepunktete Kleider und langweilen sich. Obgleich die beiden sich äußerlich voneinander unterscheiden, sind ihre Rollen und Funktionen austauschbar. Vielleicht verkörpern sie die duplizierte Langeweile.
Weil Marie I und II befinden, daß die Welt verdorben ist, wollen sie ebenfalls verdorben sein. Also erfindet die Regisseurin für die beiden ein grotesk-bizarres Wunderland, in dem die Protagonistinnen herumlungern, plappern und sich daneben benehmen. Das stilisierte Nichtstun sozusagen. Häufig zelebrieren MariaI und II Freßorgien, in denen Phallusähnliches (Senfgurken, Bananen, Würste) verschlungen wird. Am Ende verwüsten die zwei ein üppiges Festbankett. »Wenn wir fleißig sind, werden wir glücklich werden«, sagt MarieI (oderII?). Und manscht in Stöckelschuhen durch die Salatschüssel.
Schnelle Schnitte reihen die Erzählfragmente collagenartig aneinander: springen zwischen den Schauplätzen von Szene zu Szene. Und eine unberechenbare Farbigkeit: Schwarzweißes Filmmaterial alterniert mit poppig buntem und mit monochrom eingefärbtem. Die Einstellungen spielen mit Symmetrien, Formen, Farben — MarieI im blauen Kleid vor erbsgrüner Tür, MarieII im erbsgrünen Kleid vor blauer Tür.
Die Bilder sind verschwenderisch überladen mit scheinbar bedeutungsvollen Zeichen. Jedes Requisit, jedes Wort, jede Geste könnte Symbol sein oder Metapher und entzieht sich doch einer eindeutigen Zuschreibung. Was haben die grünen Äpfel zu bedeuten, die immer wieder durch die Bilder purzeln? Warum holt die eine Marie der anderen eine Nuß aus dem Mund? Tausendschönchen setzt die Bedeutungsschnüffelei matt. Schon im nächsten Moment kann das Gezeigte neuen Sinn bekommen. Oder sich als Un-Sinn entlarven. Je nachdem.
Vorspann und Endsequenz von Tausendschönchen zeigen Luftaufnahmen von zerbombten Städten. »Dieser Film«, heißt es im Nachspann, »ist denen gewidmet, die sich nicht bloß wegen des zertretenen Salats empören.« Eine Anspielung auf die Tschechoslowakei im Vorfeld des Prager Frühlings? Der Film als Parabel über menschliche Zerstörungswut? »Was machst du da?« fragt Marie. »Ich weiß es nicht«, antwortet Marie. Michaela Lechner
Vera Chytilová: Tausendschönchen. Mit Ivana Karbanová, Jitka Cerhová, Tschechoslowakei 1967, Farbe und Schwarzweiß, ab heute im Moviemento 1 und Xenon
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen