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TECHNISCHER LIEBESENTZUG Von Philippe André

Alles kriegen sie mit, die kleinen Großstadtgören. Nichts läßt sich wirklich vor ihnen verheimlichen. Zu wach und aufmerksam sind sie geworden. Nichts verständlicher als dies, denn die herrlich unbeschwerten Tagträumereien, die wir aus unseren Kindertagen kennen, sind in diesen bösen Zeiten einfach nicht mehr drin. Und in einer Stadt wie Berlin wären sie ein selbstmörderischer Charakterzug. Also haben die Kurzen ihre Augen und Ohren schlichtweg überall; und während sie noch mit Hemänfiguren oder Barbiepuppen spielen, registrieren sie jede kleine Veränderung der elterlichen Beziehungskiste, schalten sich beiläufig in die kompliziertesten Diskussionsthemen ein und korrigieren schon mal ungehalten „die naiven Einsichten“ eines TV-Kommentators. Ein qualmender Vater wird so unversehens zu einer „ökokriminellen Figur“, der Kauf einiger Bierdosen zu einem „Verbrechen gegen die Natur“. Wäre der Erwachsene ein annähernd vollendetes Wesen, man hätte ob dieser Entwicklung glücklich zu sein. Doch dem ist nicht so, wir wissen es, und das macht die Sache letztlich etwas ärgerlich. Die kleinste Unregelmäßigkeit im Erwachsenenleben wird von diesen lebenden Radarstationen mit einer Unnachgiebigkeit geahndet, für die der Begriff „erbarmungslos“ noch zu freundlich ist. In manchen Familien nimmt dieser Umstand geradezu Orwellsche Züge an. Letztens beispielsweise wollte unser kleiner Herrscher mehr über Aids erfahren, als er schon wußte. Gern redeten wir kompetent auf ihn ein und schilderten ihm vor allem die Gefahren, vor denen auch er in seinem zarten Alter schon nicht mehr gefeit sein konnte. Während wir redeten, nickte er nur, so als wollte er sagen: „Kenn ich, kenn ich“! Dann verlangte er nur zwei Dinge zu wissen: erstens, ob „auch schwule Kinder gefährdeter“ seien „als hetirosexuelle“, und zweitens, woher wir die Sicherheit nähmen, selbst „kein Aids zu haben“. Für einen Moment geriet ich außer Fassung, hatte mich jedoch schnell wieder im Griff. Lässig konterte ich mit der Beantwortung der letzten Frage: „Deine Mutter und ich sind seit fast zwanzig Jahren zusammen, mein Junge“, dozierte ich, „du kannst davon ausgehen, daß wir kein Aids haben.“ „Mmh!“ — „Was heißt denn mmh“, fragte meine Frau entgeistert. „Ach nichts“, er lächelte. „Habt ihr denn einen Bluttest gemacht?“ — „Einen waas?“ Meiner Gattin plötzlich bleich gewordenes Antlitz ließ auf einen rapiden Sturz ihrer Körperwärme schließen. Vermutlich Zimmertemperatur! „Woher hat er...?“ „In der neuen Bravo steht, man soll einen Bluttest machen, Mami“, insistierte der Kleine. Sein offenes Gesicht schien ehrlich besorgt. Geistesgegenwärtig wechselte ich das Thema auf RTL. „Knightrider“ rettete diesmal aus einer verzwickten Situation. Und dann war's auch schon vergessen. Abends kam ich nochmals kurz zu ihm rüber. Wir quatschten noch ein Weilchen, dann beugte ich mich zu meinem Süßen hinab, um ihm einen Gutenachtkuß zu geben. Da wisperte es schläfrig aus dem Dunkel: „Erst den Bluttest, Paps!“

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