: Und wieder das Rot ihrer Lippen
■ Nan Goldins Leidenschaftsstudien im Museum Folkwang
Nan Goldin ist verletzt, und sie zeigt es. Unter ihrem rechten Auge erstreckt sich ein Bluterguß, die Haut um das linke Auge ist grün-bräunlich verfärbt. Das Blut geplatzter Äderchen hat das Weiß des Auges vollkommen eingefärbt — mit einem Rot, das den gleichen Ton hat wie Nans Lippenstift. Das Foto hängt im Fotografischen Kabinett des Museums Folkwang in Essen als Eröffnungsbild der Ausstellung Life, Loss, Obsession mit neuen Arbeiten von nan Goldin. Es ist Anfang und Abschluß zugleich, denn es gehört noch zu den Fotos, die Nan Goldin über die Jahre hinweg als Diashow gezeigt hatte, von der eine Auswahl anschließend in dem gleichnamigen Buch Die Ballade von der sexuellen Abhängigkeit zu sehen war: Fotos von ihrem Leben, Fotos, die radikal die äußeren und inneren Verletzungen der Menschen bloßlegten, mit denen Nan Goldin in Beziehung stand. „Mein visuelles Tagebuch ist öffentlich“, sagte die amerikanische Fotografin damals und stellte Gefühle aus, ihre und die der anderen. In den Bildern hatte sie versucht herauszufinden, was das Leben zu zweit so schwierig macht. Übrig blieb nur sie allein, geschunden.
Nach dem ersten Bild folgten andere, die vollkommen fremd wirken. Auf ihnen hat Nan sich selbst porträtiert, doch es kommt ihr nicht mehr so sehr darauf an, die Spannungen zwischen den Geschlechtern abzubilden. Nan Goldin hat etwas entdeckt — das Sonnenlicht. Nur zögernd nähert sie sich dem ihr bis dahin unbekannten Phänomen. Ihre alten Aufnahmen waren fast alle geblitzt oder zeigten Menschen in Räumen, die durch künstliches Licht erhellt wurden — eine Kulisse, die sich von selbst ergab, denn Nan Goldin hatte mit Menschen zu tun, die sich dem Innern zugewandt hatten, um Liebe und Schmerz erfahren zu können oder sich in Rauschzustände hineinzusteigern: Leben als Gratwanderung, bereit zu jedem Risiko. Dabei spielt das Außen keine große Rolle, alles drehte sich um das Selbst.
Jetzt ist es also das Sonnenlicht, dem sich Nan Goldin aussetzt, wie einem feindlichen Wesen. Die Erfahrung von Helligkeit kann eine schmerzhafte sein. Das erste Foto zeigt Nan vor dem Krankenhaus, in dem sie zum Drogenentzug war. Bäume werfen lange Schlagschatten auf den Rasen. Ihr Gesicht wird von der Sonne angestrahlt. Ein lichtscheues Wesen exponiert sich, die Wangen sind hell und fast weiß, wieder sticht das Rot ihrer Lippen ab. Die Augen bleiben hinter einer Sonnenbrille versteckt; zuviel Licht auf diesem Foto, zuviel Licht, um sich ihm preiszugeben. Auf dem nächsten Bild ist das Krankenzimmer abgebildet, hier ist Nans neue Erfahrung im Umgang mit dem Licht vermittelt durch ein Gemälde, das in der Mitte des Zimmers hängt. Das Bild ist fast nur Himmel, hinter einer Wolke bricht die Sonne hervor, konturiert die Wolke mit gleißenden Rändern und schickt Lichtstrahlen auf die Meereslandschaft.
Noch ist nicht abzusehen, wohin Nan Goldin ihre Entdeckungen führen wird. Aber manche der neueren Porträts von ihren Freunden, die unter dem Einfluß des Tageslichts aufgenommen wurden, wirken seltsam gestellt, haben wenig von der schmerzlichen Genauigkeit des Blitzlichtes, mit dem Nan Goldin bisher hantierte. So sind auch in Essen die neu entstandenen Bilder alter Machart, die Milieustudien von crackrauchenden Freunden, grellbunten Transvestiten, verlebten Partygesichtern lohnender. Nan Goldin beweist, daß Authentizität nichts mit Objektivität zu tun hat, sondern mit Leidenschaft. Sie ist dort zu finden, wo Menschen bereit sind, exzessiv zu sein. Und das geschieht selten unter Tageslicht.
Christoph Boy
Nan Goldin: Life, Loss, Obsession . Fotografisches Kabinett im Museum Folkwang Essen, bis 28.11.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen