: Wenn auch der Vater des Opfers zur Beratung geht
■ Die Psychologin Hedwig Große Maestrup über sexuellen Mißbrauch in der Familie und über die Beratungsstelle KIZ, die sich auch an Täter wendet
Kürzlich wurde ein Rentnerehepaar vom Landgericht wegen Vergewaltigung und sexuellen Mißbrauchs ihrer sechsjährigen Enkelin Anja verurteilt. Der Mann erhielt zwei Jahre und neun Monate Haft, die Frau 21 Monate auf Bewährung. In dem Prozeß hatte Anjas 32jährige Mutter überraschend ausgesagt, daß sie als Kind auch schon von dem Angeklagten — ihrem Vater — vergewaltigt worden sei. Dies habe sie bislang niemandem offenbart. Die taz sprach über dieses Thema mit der Psychologin der Beratungsstelle für sexuell mißbrauchte Kinder, KIZ, Hedwig Große Maestrup.
taz: Wie ist es zu erklären, daß die Mutter ihre sexuelle Mißhandlung durch ihren Vater erst offenbart, nachdem dieser sich auch an ihrer Tochter vergangen hat?
H. G. Maestrup: In den Beratungsgesprächen erleben wir es häufiger, daß sich die Mütter erst zu dem Zeitpunkt erinnern können, zu dem der Mißbrauch ihrer Tochter offengelegt wird. Sie haben es gefühlsmäßig abspalten müssen, weil es so schmerzhaft ist und sie andernfalls nicht hätten weiterleben können. Manche Frauen wissen zwar, daß irgendwo etwas passiert ist, haben es aber in der Hoffnung verdrängt, neues Leben aufbauen zu können, mit einer Partnerschaft und Ehe, in der sie ihre Kinder besser schützen können.
Warum läßt eine Mutter ihr Kind mit dem Großvater allein, obwohl sie von diesem selbst mißbraucht wurde?
Viele Erwachsene sind sich nicht darüber im klaren, daß sexueller Mißbrauch eine Wiederholungstat ist. Für erwachsene Frauen ist es häufig eine große Erschütterung, wenn sie erfahren, daß ihr Vater noch ein anderes Kind mißbraucht hat. Da sie, um überleben zu können, als Kind den eigenen sexuellen Mißbrauch verdrängen mußten, sind sie häufig gegenüber der sexuellen Gewalt gegen das eigene Kind blind. Sie befinden sich manchmal aufgrund des eigenen unverarbeiteten Mißbrauchs noch in einem Abhängigkeits- und Loyalitätskonflikt gegenüber dem eigenen Vater.
Im Gegensatz zu Wildwasser bietet KIZ auch Therapie für Täter an, die aber Familienangehörige des Opfers sein müssen. Wildwasser lehnt so etwas ab. Was ist der Grund dafür?
Wir finden es notwendig, für Täter therapeutische Hilfe anzubieten, um den Kreislauf des sexuellen Mißbrauchs zu durchbrechen. Die Erfahrung zeigt, daß der Täter ohne eine Konfrontation mit der Tat und anschließende Therapie fast ausnahmslos rückfällig wird. Unser Ziel ist, daß die Männer für den sexuellen Mißbrauch die Verantwortung übernehmen und damit das Kind entlasten. Manchen Kindern ist eine richtige Erleichterung darüber anzumerken, daß ihr Vater zur Beratung herkommt. Ab und zu arbeiten wir mit Fremdtätern oder mit Männern, die als Erzieher Kinder im Kindergarten mißbraucht haben. Wichtig ist es für uns, vor allem jugendlichen Tätern Hilfe anzubieten, damit sie nicht in den Kreislauf von Verleugnung und Geheimhaltung landen. Aber die vielen Männer, die wegen Kindesmißbrauchs in Haft sitzen, können wir nicht betreuen.
In diesem Jahr wurden über 1.000 sexuelle Vergehen an Kindern zur Anzeige gebracht. Die Dunkelziffer für sexuellen Mißbrauch wird auf 20- bis 30.000 Kinder jährlich in Berlin geschätzt.
Das zeigt, wie gering die Möglichkeiten von Wildwasser und uns — als einzige offizielle Beratungsstellen — sind. Die Kapaziäten von Wildwasser sind erschöpft und unsere auch. Wir machen hier schon alle Überstunden, aber die Anfragen von Müttern nehmen stetig zu.
Werden tatsächlich mehr Kinder als früher sexuell mißbraucht?
Sexuellen Mißbrauch hat es zu allen Zeiten gegeben. Aber durch die Öffentlichkeitsarbeit vor allem durch die Frauenbewegung wurden mehr Fälle bekannt. Manchmal wenden sich ältere Frauen und Großmütter an uns, die etwas spenden wollen. Sie sagen: »Mir ist nicht geholfen worden, aber vielleicht können Sie ja anderen Kindern helfen.« Immer mehr Mütter wollen darüber sprechen. Auch manche Therapeuten sind hellhöriger geworden. Ich kann mir vorstellen, daß etliche Frauen und Männer mit Schizophrenien oder Psychosen in der Psychiatrie untergebracht sind, die über ihre sexuelle Mißhandlung immer geschwiegen haben.
Was kann die Gesellschaft tun?
Prävention ist sicher eine Möglichkeit, aber sie reicht nicht aus. Es muß eine kontinuierliche Berichterstattung in den Kindergärten und Schulen stattfinden. Auch Erwachsene müssen ihre Haltung gegenüber den Kinder verändern: ihre Persönlichkeit respektieren.
Trägt das Strafverfahren dazu bei, daß das Kind den Mißbrauch besser verarbeiten kann.
Nein. Für kleine Kinder ist es eine Belastung und kann in der persönlichen Entwicklung schädigend sein. Wir erleben es häufig, daß das Verfahren eingestellt wird, wenn das Kind noch nicht einmal hier bei uns darüber sprechen konnte. Die Einstellung wird dann zwar mit Mangel an Beweisen begründet, aber der Täter kann zu dem Kind dann sagen, du hast gelogen. Mit diesem Stigma läuft das Kind dann später herum. Manchmal werden auch Mütter dadurch verunsichert. Viele glauben, daß unsere Gerichte Gerechtigkeit sprechen. Der Verfahrensablauf ist trotz einiger positiver Veränderungen bis heute überhaupt nicht kindgerecht. Andrerseits kann das Verfahren für Jugendliche, die über die Tat sprechen können, auch eine Erleichterung sein. Sie brauchen aber eine gute Unterstützung. Interview: Plutonia Plarre
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