: Wir sind ein Stau!
■ Der alltägliche Stau wird zwar als Symptom wahrgenommen, aber die dahintersteckende Krankheit wird immer noch ignoriert
Jeder Mensch, der heutzutage in sein Auto steigt und auf unseren überfüllten Straßen sein immobiles Dasein fristet, tut dies nicht mehr mit der stolzen Selbstverständlichkeit, wie sie noch für die unbekümmerten Automobilisten früherer Jahrzehnte bezeichnend war. Im Gegenteil: Jeder, der sich heute auf dem Weg zur Arbeit, zum Supermarkt oder zum Urlaubsort durch kilometerlange Staus quält, und sinnlos wertvolle Zeit und Energie verschwendet, ist nur noch das lächerliche Zerrbild jener glücklichen Autofahrer, die in peppigen Werbespots durch sonnendurchflutete Landschaften preschen und dem „reinen Fahrvergnügen“ frönen. Der Autofahrer von heute grämt sich und quält sich, ist von Selbstzweifeln befallen und hilflos dem nagenden schlechten Gewissen ausgeliefert.
Durch den erzwungenen Stillstand, durch das brutale Gestopptwerden wird das Groteske und das Absurde unseres Mobilitätswunsches offenbar. Wir erzeugen den Stau wider besseres Wissen, indem wir instinktiv immer wieder derselben Gewohnheit gehorchen. So schädigen wir uns selber und den Gesamtorganismus als Gemeinschaft derjenigen, die Städte und Landschaften bewohnen, die der Verkehr zunehmend unbewohnbar macht. Für diesen Zusammenhang hat der öffentliche Sprachgebrauch Begriffe geprägt, die bereits Gemeinplätze sind und auch wiederum gewohnheitsmäßig angeführt werden: Kollaps, Infarkt, Chaos, Autowahn, Droge Auto und so weiter; Begriffe, die größtenteils aus der Medizin entlehnt sind und eine Krankheit in einem sehr bedrohlichen Stadium kennzeichnen. Längst haben auch die Medizin und sogar die Politiker das allgemeine Unbehagen am Automobil ins tägliche Themenangebot aufgenommen. Selbst die Automobilwerbung kommt nicht mehr umhin, ernstzunehmende Einwände gegen den Autowahn in eine verkaufsfördernde Beruhigungsstrategie umzubiegen.
Der alltägliche Stau wird also als Symptom ernstgenommen, aber die eigentliche, die Auto-Sucht verursachende Krankheit wird nicht angegangen. So entsteht ein rationaler Konsens auf breitester Front, was die Verdammung der selbstzerstörerischen Sucht angeht, aber hinter dem Rücken der Wortführer startet der Patient zu seinem nächsten Trip und erwacht verkatert da, wo er nie hinwollte: im Stau. Dieser Widerspruch läßt sich tatsächlich nicht als etwas anderes als eine tiefsitzende Krankheit deuten, deren Diagnose vielschichtig und langwierig sein dürfte. Es gibt weitere Faktoren, die unsere Krankheit von außen beeinflussen und ihr zerstörerisches Wachstum begünstigen: Die eindimensionale Ausrichtung der Wirtschaftsstruktur verhindert systematisch Alternativen, wie ÖPNV oder weitergehende Maßnahmen. Folgen sind Entscheidungsunfreiheit, Ohnmacht des einzelnen, wütendes, willenloses Mitfahren-Müssen. Wo Staat und Wirtschaft die individuellen Bewegungen des einzelnen diktieren, entsteht Apathie oder auch gewaltsame Verteidigung. Das verhängnisvolle Triumvirat aus Bund, Bahn und Autoindustrie sichert und verordnet den massenhaften Wunsch nach Pkw- orientierter Bewegung. Bisher kennen wir nur Sucht als ihr Ventil, und wir fragen: Was treibt uns in den Stillstand, was hindert uns, anzuhalten? Warum braucht die Psyche das Auto?
Das Auto macht uns stark
Selbst spindeldürre Arme und Beine können mit Leichtigkeit drei Pedale und ein Lenkrad bedienen und ein tonnenschweres Gefährt in ein Geschoß verwandeln. Die Fortbewegung mit einem Auto verleiht uns das Vielfache unserer eigenen Kraft. Es entbindet uns von den Unzulänglichkeiten natürlicher Fortbewegung und vermittelt uns ein Gefühl von Omnipotenz und Kontrolle. Kraft und Stärke (als wesentliche Merkmale des erfolgreichen Menschen) werden von findigen Designern und Technikern auch am jeweiligen individuellen Gepräge von Frontansichten und Auspuffsounds verewigt. Die ungeheure Ramme vor dem Kühler eines allradgetriebenen Range Rover mag einem schon das Gefühl verleihen, wenigstens ein bißchen zu sein wie Bud Spencer. Es ist schließlich nicht völlig gleichgültig, mit welchem Auto man die Zeit im Stau verbringt, und das Symptom Stau zwingt uns zur Einsicht in das, was wir auf keinen Fall wahrhaben wollen: unsere Ohnmacht, unsere Schwäche und Minderwertigkeit, unseren Verlust der Kontrolle. Gefühle, die man nicht zu haben hat in einer Leistungsgesellschaft, die die eigene Begrenztheit nicht akzeptieren kann. Wieviel Ohnmacht müssen wir in unserem kulturellen Weltbild realistischerweise in Rechnung stellen? Und wie und wo können wir Gelegenheiten schaffen, uns anders zu erfahren als wir es im Berufs- und Alltagsleben täglich tun, nämlich als bloßes Rädchen im Getriebe?
Autos machen Leute
Wir wissen das schon längst, und eigentlich finden wir's prima. Schon im Kindesalter durch das Autoquartett auf den rechten Weg gebracht, wird man durch den Initiationsritus des Führerscheingewerbes in den Kreis der Vollbürger aufgenommen; im Vergleich dazu erscheint die Berechtigung zur Wahl als Zugabe mit fadem Beigeschmack. Durch die Teilnahme am Autoverkehr kann man nicht nur zeigen, daß man erwachsen ist, sondern auch, wieviel man verdient, wo man steht und ob man eher zu den Konservativen, den Dynamischen oder den Sportlichen gehört. Der Straßenverkehr ist die ideale Bühne für Sehen und Gesehenwerden, für den Balanceakt zwischen Integration in die Masse und Abgrenzung von ihr. Dazu brauchen wir gerade die, über die wir uns gleichzeitig ärgern. Das unheitere, weil mißgünstige Beruferaten im Stau führt jedoch schnell zur völligen Ernüchterung, wenn man in den zur Schau gestellten Schein-Identitäten der Blechhülsen wiederum die Symptome dessen sieht, was defizitär ist: innere Stabilität, gelungene Charakterentwicklung, Reife, Echtheit. Das Wissen, daß unsere Gesellschaft narzißtische, beziehungsgestörte, entfremdete, kontaktunfähige Persönlichkeiten hervorbringt, findet immer breitere Akzeptanz, aber die Notwendigkeit, gestörte Entwicklungen und Identitätsprobleme im Zusammenhang mit dem Autowahn zu sehen, wird noch zu wenig erkannt. Da ist es geradezu tröstlich, sich mit einem Ralleystreifen von der Masse abzugrenzen und der inneren Leere wenigstens für ein paar Minuten oder Stunden zu entkommen.
Die Befürworter von öffentlichen Verkehrsmitteln als einziger Alternative zum Individualverkehr stehen angesichts dieser Tatsache vor kaum lösbaren Problemen. Man stelle sich eine Bundesbahn vor, die auch nur annähernd versuchte, hier gleichzuziehen: Fangen wir vorsichtig an mit dem futuristischen Individualfahrgastabteil inklusive funktionslosem Steuerrad, einem Spiegel zum Aufhängen des Talismans sowie einer Ablagefläche für die liebevoll umhäkelte Klorolle...
Autofahren macht frei
Ein zynischer Satz angesichts der Verkehrslage, dennoch scheinbar ungebrochen wirksam, denn der Mythos von der freien Verfügbarkeit von Zeit und Raum, die das Automobil verspricht, ist alt und fast so schön wie der Traum vom Fliegen. Unbegrenzte Freiheit=Mobilität. Diese Gleichung gilt nicht mehr: Wir können uns nicht mehr „auto“-nom oder -mobil bewegen, und auch hier zeigt sich, daß der Bewegungsansatz einen gravierenden Mangel an Beweglichkeit in anderen Lebensbereichen verschleiert. Ebenso wie die „Auto-mobilität“ die gesundheitsfördernden Wirkungen der körperlichen Bewegung nicht ersetzen kann, kann sie auch auf Dauer keine Kompensation für fehlende seelische Bewegung sein. Unser gestörtes Verhältnis zur Zeit, die wir nur noch als Hast in den mechanischen Rhythmen der Sachzwänge oder als Leerlauf in der Langeweile, der Erstarrung vor dem Fernseher oder im Freizeitstreß erleben können, findet einen adäquaten bildhaften Ausdruck in Raserei und Stillstand des Verkehrsflusses. Die kleine Bewegung in der Mitte haben wir verlernt: den eigenen, fließenden Rhythmus der Gefühle und Gedanken. Wir sind ständig „auf Achse“, aber wir wissen nicht mehr, was das bedeutet: das Abenteuer, unterwegs zu sein, einen Schritt zu tun, aufzubrechen, wohin wir wollen.
Das Auto macht uns allerdings andererseits auf eine erschreckend reale Weise frei: nämlich von Aggressionshemmungen. Verschanzt hinter Blech und abgetönten Scheiben, vollkaskoversichert, der Kommunikation bis auf rudimentäre Überbleibsel wie Hupe und Licht und einige ausgewählte Fingerzeichen enthoben, brauchen wir uns nicht mehr die Mühe machen, Mensch zu bleiben beim Drohen, Drängeln und Rasen.
My car ist my castle!
Im Auto sind wir sicher: vor Wetter, lästigen Mitmenschen, Anforderungen von Beruf und Familie. Das Auto ist ein Ort der Geborgenheit, eine Zuflucht, eine Trutzburg zum Schutz vor einer oft als feindlich erlebten Gesellschaft. Es ist ein Ersatz für Ruhe und Rückzug. Die Vermutung liegt nahe, daß wir in einer komplizierten, hochzivilisierten Industriegesellschaft und Massenkultur ein gestörtes Verhältnis zu den Möglichkeiten des Auf-sich-selbst-Besinnens haben. Statt dessen fühlen wir uns verfolgt von Normen und Pflichten und befinden uns ständig unter dem Druck des Vergleichens und Wertens. Müssen wir für dieses Ruhebedürfnis die Zerstörung von Städten und Landschaften hinnehmen?
Wir müssen uns eingestehen, daß die „Dinge im Sattel sitzen und die Menschheit reiten“ (Emerson), daß wir die Verantwortung schon lange nicht mehr übernehmen können, daß wir der Flut von Katastrophenmeldungen hilflos ausgesetzt sind und nur noch mit einem Abwehrpanzer leben können.
Was hindert uns daran, die Krankheit ernstzunehmen? Das Erlebnis des Staus als Symptom zwingt uns zur Konfrontation mit den Schattenseiten unserer negationsfreien Gesellschaft, zurück bleibt ein Gefühl der Apathie, die selbst Kennzeichen der Suchterkrankung ist, indem sie nämlich Folgen verdrängt und bagatellisiert, Alarmsignale mißachtet, sich eben nicht wirklich mit der Sucht und ihren Ursachen auseinandersetzt.
Wie auch eine Entziehungskur nur bei freiwilliger Bereitschaft dazu sinnvoll ist, die erst bei erheblichem Leidensdruck entsteht, so scheint auch die Bereitschaft zur gesellschaftlichen Therapie noch einer weiteren Verschärfung der Krisen zu bedürfen, um wirksam zu werden. Noch überwiegen die Vorteile für den einzelnen gegenüber dem Gespür für die Nachteile. Aussteiger werden noch immer belächelt. Es ist nur mit einem großen Bruch und unter erheblichen Schmerzen möglich, sich von einer gesellschaftlichen Identität zu lösen, auch wenn sie selbstzerstörerisch und lebensfeindlich ist.
Zwei Strategien der Heilung sind denkbar. Einerseits „Kampf dem Symptom“, zweitens „Stärkung der Selbstheilungskräfte“. Symptome der Autosucht werden bekämpft im Sinne von Notfallmedizin und Schadensbegrenzung, siehe Tempolimit, Förderung der alternativen Schiene, ÖPNV, Solarauto, Verkehrsleitsysteme etc. Diese Maßnahmen sind notwendig, wenn sie einen lebensfördernden Umgang mit der Technik zum Ziel haben. Sie greifen jedoch zu kurz, weil sie tiefere Ursache und Bedeutung der Krankheit vernachlässigen und häufig nur kurzfristige, halbherzige oder kopflose Reaktionen sind. Krisenmanagement als Politikersatz. Außerdem wird auf diese Weise die Illusion der technischen Machbarkeit aufrechterhalten und die Tendenz verstärkt, Verantwortung für eigenes Handeln zu delegieren: Wir brauchen uns nicht zu ändern, nichts wird in Frage gestellt.
Lassen wir es jedoch zu, die Defizite in anderen Lebensbereichen wahrzunehmen, die zum Suchtverhalten führen, dann zeigt sich der Bereich, in dem die Selbstheilungskräfte ansetzen können. Wie kann man Ersatz überflüssig machen? Den Weg zu einem anderen Bewußtsein nicht mehr der Informationsmaschine überlassen? Gefühle und Gedanken, den eigenen Körper ernstnehmen, schädliche Haltungen verlernen? Verstärkung und Unterstützung suchen?
Kollektives Fehlverhalten kann wiederum nur durch kollektive Anstrengungen behoben werden. Hier spielt das Individuum wieder die Rolle, die ihm eigentlich zusteht: verantwortungsvoll am Ganzen mitzuwirken. Nutzen wir die Gelegenheit zur Reduzierung des Mißbrauchs, zur Gruppenbildung gegen die mit Übermacht verordneten Suchtmechanismen, zur öffentlichen Demonstration, zum Austausch mit anderen Geschädigten. Das Suchtproblem Auto kann nicht von Verkehrspolitikern und Technikern gelöst werden. Psychologen, Sozial- und Bildungspolitiker sind aufgerufen, zum Autowahn klare Stellung zu beziehen und an der Lösung dieses vielleicht brennendsten Problems der technischen Zivilisation teilzunehmen. Ludger Börmann/
Michael Sonnabend
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