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Der Architext

Über einen neuen Gegenstand der Poetik  ■ von Holger Fock

Welche Aktualität besitzt heute ein Buch, das sich mit Gattungskriterien beschäftigt? Haben nicht die sogenannten postmodernen Dichter diese Frage erledigt, indem sie alle poetischen Kategorien nach dem Prinzip des »anything goes« parodieren, mischen, zitathaft verwenden? Haben die meisten postmodernen Kritiker und Interpreten nicht zurecht nur noch mit »Texten« gehandelt, und sie »intertextuell«, also in ihrer Beziehung zu allen anderen »Texten« (was man auch als »Textualität« bezeichnet hat) interpretiert?

»Im günstigsten Fall« geraten wir, so der französische Literaturtheoretiker Gerhard Genette (seit der Übersetzung seiner »Paratexte« auch hierzulande kein Unbekannter mehr), »von der Poetik in die Phänomenologie: Was nämlich istein Text?«

Zweifellos müßte das weder den postmodernen Dichter noch seinen Interpreten kümmern, schließlich hindert ihn nichts, den Text nach Belieben zu schreiben und zu kommentieren. Doch Genettes Einwand ist nicht von der Hand zu weisen: Selbst die Mischung oder Mißachtung von Gattunsgrenzen und -regeln bezieht sich auf vorhandene Gattungskategorien und enthält »in nuce ein System von Gattungen«. Folglich kann man einen Text nicht einfach in seiner »Textualität« interpretieren, sondern nur in Bezug auf die Gesamtheit aller textübergreifenden Kategorien, wie episch/lyrisch/dramatisch, in Prosa/in Versen, komisch/tragisch/ satirisch, Ich-Erzählung/auktoriale Erzählung usw. Genette nennt diese sinnigerweise »Architext«. Ziel seiner ebenso kurzen wie kurzweiligen Abhandlung ist es, diesen »Architext« zum Gegenstand der Poetik zu machen.

Seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht trichterte man Schülern die heilige Dreiteilung der poetischen Gattungen ein: episch, lyrisch, dramatisch. Auch die Moderne hat, sieht man von den verwegenen Avantgardisten ab, diese literarische Gewaltenteilung mehr oder weniger akzeptiert, die längst obsolet geworden ist.

Eine Untersuchung des »Architexts« muß also damit beginnen, das Korsett der Gattungsgeschichte aufzusprengen. Diese Arbeit unternimmt Genettes »Einführung...«. Von Platon und Aristoteles ausgehend, analysiert er über neun Kapitel die Geschichte der klassischen Dreiteilung der Poetik, um sich von ihrem Dogma zu befreien. Aristoteles beschäftigte sich ausschließlich mit mimetischen Formen und räumte der lyrischen Dichtung keinen Platz ein. Zudem ist die aristotelische Differenzierung in erzählende und dramatische Dichtung eine Unterscheidung nach Modi (Aussageweisen) und nicht nach Genera oder Species (Gattungen oder Arten). Erst indem er sie mit der Unterscheidung in einen hohen und niedrigen Gegenstand der Dichtung kombinierte, gelangte er zu vier Klassen von Dichtung: Tragödie, Komödie, Epos und Parodie.

Wie konnte die klassische Poetik aus diesen »Nachahmungsklassen« die Triade der Gattungen ableiten? Genette erklärt diesen unerhörten Vorgang als romantische Projektion: Tatsächlich gab es bei Platon die Dreiteilung in eine rein erzählende (der Dithyrambus), eine reine dramatische (Tagödie/Komödie) und eine gemischte Dichtung (Epos). Aristoteles übernahm zwar seine grundlegende Unterscheidung nach Schreibweisen, reduzierte sie aber auf das Paar dramatisch/erzählend, wobei er den Dithyrambus kurzerhand unter das Epos, die rein erzählende unter die gemischte Dichtung subsumierte. Die klassische Poetik hat das freigewordene dritte Feld mit der Kategorie der lyrischen Dichtung gefüllt und die drei angeblich grundlegenden Aussageweisen des Lyrischen, Epischen und Dramatischen zu Gattungen erhoben.

Genette folgte den Spuren dieses Prozesses mit detektivischer Genauigkeit quer durch die Gattungsgeschichte vom klassischen Zeitalter bis ins 20. Jahrhundert hinein. Ihm dabei über die Schulter zu schauen, bereitet höchstes Lesevergnügen. Von Goethe über Jean Paul, Friedrich Schlegel, Schelling, Humboldt, Hegel bis zu zeitgenössischen Ästhetikern folgen fast alle dem neurotischen Zwang zur Weiterführung der Triade.

So enthüllt Genette anhand der Gattungsgeschichte einmal mehr jene unwiderstehliche Sucht des menschlichen Geistes, das Feld seiner (in diesem Falle literarischen) Erfahrungen zu ordnen und nach hierarchischen Prinzipien zu klassifizieren. Auch modernen Theoretikern von Lämmert, Todorov oder Hempfer weist er hierarchisierende Induktionen nach. Sie können Kategorien wie das »Komische Proseepos«, wie Fielding seinen »Tom Jones« genannt hat, nicht mehr fassen, weil sie, zum Beispiel Hempfer, inhaltliche Kriterien (komisch, satirisch usw.) ähnlich wie Erzähltypen als eine Art Submodi den Schreibweisen unterordnen.

Genette bestreitet nicht die Existenz unterschiedlicher Gefühle, Formen, Themen, Erzähl-, Aussage- oder Schreibweisen etc. Auch ihrer Kombination zu Gattungskategorien würde er nicht die Existenzberechtigung absprechen. Nur dem Bemühen, sie alle hierarchisch zu ordnen, sie irgendwelchen »natürlichen Dichtarten« (Goethe) oder »Urgattungen« (die Romantiker) oder »Idealtypen« (Todorov, Lämmert) unterzuordnen, erteilt er eine Absage.

Stattdessen schlägt er im Rückgriff auf Aristoteles' Koordinatensystem vor, aus der bekannten Menge »inhaltlicher, modaler und formaler Determinanten, die relativ konstant und transhistorisch sind« eine Art Gattungskubus zu bilden, der das literarische Feld insgesamt beschreibt, der »eine Art Vorrat von virtuellen Gattungen bereithält, aus dem die Evolution dann auswählt«, und der in Richtung aller drei Koordinaten offen ist für »Überraschungen, Wiederholungen, Zufälligkeiten, plötzliche Mutationen oder unvorhersehbare Neuschöpfungen«.

Freilich versäumt Genette es nicht, in einer ironischen Wendung selbst von einer allzu perfektionistischen Anwendung dieses Schemas zu warnen, das wie eine »schlechte Karikatur eines strukturalistischen Alptraums« aussieht.

Die »Einführung in den Architext« (in Frankreich bereits 1979 erschienen) stellt das gelungene — und hervorragend übersetzte — Beispiel eines vielfach diskreditierten Verfahrens dar, das man in Anlehnung an Paul de Man und Jacques Derrida Dekonstruktion genannt hat. Genette schafft die Möglichkeit, mit Ironie zu einer allgemeinen Theorie der literarischen Formen zu kommen.

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