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Bauern, Bonzen, Blitzableiter

H.D. Kittsteiner über Gewissen und Geschichte  ■ Von Rüdiger Zill

Der liebe Gott sieht bekanntlich alles! Und als hätte man's geahnt: Der Allwissende entstammt der upper class. Deshalb ist auch der Begriff des Gewissens stets von gebildeten Gruppen verwaltet und gehandhabt worden. Keinesfalls aber agiert diese normsetzende Schicht dabei mit dämonischer Omnipotenz. Vielmehr scheitern die Bildungsbonzen, ob tiefsinnige Pfarrer oder glaubensstarke Philosophen, immer wieder an der Beantwortung der Frage nach den emotionalen Kräften, die bewirken, daß die Regeln des Gewissens allgemein als verpflichtende akzeptiert werden. Für den Zeitraum zwischen Reformation und Aufklärung erzählt die Geschichte dieses Scheiterns — und einiger eher zufällig errungener Erfolge — jetzt Heinz D. Kittsteiners neues Buch Die Entstehung des modernen Gewissens.

Gewissensfragen, gar historisch untersucht, sind bekanntlich ein weites Feld. Daher kann man das Terrain nicht von einer bequemen Stichstraße aus erkunden, sondern muß sich schon die intellektuellen Gummistiefel anziehen und querfeldein wandern. Kittsteiner entleiht das Bild für sein Unterfangen allerdings einem anderen Gewerbe — er versteht sich als Textilhandwerker, der sein Weberschiffchen zwischen den Ebenen des Textes hin- und herschießen läßt, zwischen Philosophie und Alltagshistorie, Psychologie und Hermeneutik. Er praktiziert beispielhaft, was sonst meist nur gefordert, aber selten durchgeführt und noch seltener honoriert wird: Interdisziplinarität.

Die Grundtendenz, die sich in mehreren diachronen Diskursdurchgängen — jeweils von Luther bis Kant — zeigt, ist eine Verinnerlichung der Handlungskontrollen, die sich an der Verschiebung der moralischen Leitvorstellung von „Gnade“ zu „Tugend“ bemerkbar macht. Diese Entwicklung verläuft in drei Stufen. In der ersten Phase, von der Reformation bis etwa 1650, waren die Bemühungen der protestantischen Prediger darauf gerichtet, das Gewissen des gläubigen Landmanns auf einen Gott des Zorns und der Gnade, der selbst strafend in die Welt eingriff, zu orientieren. Der Sünder sollte gefälligst ein über ihm am Himmel tobendes Gewitter nicht dem Teufel und seinen Hexen anlasten, sondern einem Fehlverhalten, und sollte Gott, der ihn mit diesem Donnerwetter züchtigen will, durch Buße- und Reueübungen milde stimmen. Was so entsteht, ist keine vorausschauende Langzeitkontrolle, sondern lediglich ein punktuell aufbrechendes Sündenbewußtsein, ein rückwärtsgewandtes, schwaches Gewissen, das in einer unvollkommenen Welt notwendig straucheln muß und auf hochrichterliche Gnade angewiesen ist.

Mit der allmählich einsetzenden Mechanisierung des Weltbildes der zweiten Phase (etwa 1650 bis ins frühe 18. Jahrundert) ist der Allmächtige nicht länger unmittelbarer Akteur, sondern nur noch der weise Schöpfer, der die Welt nach stetigen Gesetzen eingerichtet hat. Die Erfindung des Blitzableiters durch Benjamin Franklin schlägt ihm dann in der dritten Phase (bis zum Ende des 18. Jahrhunderts) vollends die elektrische Rute aus der strafenden Hand. Ihm bleibt nichts anderes übrig als ein „lieber Gott“ zu werden — kein großes Problem, da die neue Zeit ohnehin das Tugendgewissen verlangt, eine starke innere Kraft, die alles Handeln konstant reguliert. Aus der Schamkultur (ein vor allem äußerlich überwachtes Regelwerk, das „negative Verstärkungsinstanzen“ braucht) ist eine Schuldkultur geworden: eine Kultur, die auf selbstbeherrschte Individuen von moralischer Beständigkeit baut.

Diese Tendenz wird in drei großen Blöcken untersucht. Im zentralen zweiten Teil wird gewissermaßen das begriffsgeschichtliche Laboratorium der normsetzenden Schichten durchstöbert, zunächst die Entwicklung des moraltheologischen Diskurses über das Gewissen, dem im ersten Teil des Buches die Geschichte seiner beiden wichtigsten „negativen Verstärkungsinstanzen“, Gewitter und Hölle, plakativ vorgeschaltet ist. Der andere begriffs- und theoriegeschichtliche Strang, dem im zweiten Teil nachgespürt wird, ist der philosophische Diskurs, dem eine doppelte Funktion zukommt: Er kritisiert den theologischen wegen seiner praktischen Erfolglosigkeit und stellt gleichzeitig die Avantgarde dar, die den jeweils neuen Gewissensbegriff entwickelt, das neue Instrumentarium, das dann, zeitversetzt, das theologische Fußvolk unter die Leute bringt.

Der dritte Teil des Buches widmet sich den Widersprüchen, in die sich die braven Landaufklärer dabei stets wieder verfangen, die zähen Widerstände, an denen sie kläglich versagen. Denn einerseits verhindert die Entwicklung des Gewissensbegriffs selbst seine nachhaltige Verankerung im Volke: Der eifrige Landmann von gestern ist der Tölpel von heut', der alles falsch macht. Andererseits erweisen sich die meisten ländlichen Seelen ohnehin als relativ resistent gegen die unpraktischen Ratschläge der Berufsmoralisten. Aus der pastoralen Propaganda wählt man aus, was den eigenen Interessen nutzt und frommt — bauernschlau eben.

Der Hauptgrund für die Vergeblichkeit des Gewissenskampfes scheint Kittsteiner der Widerspruch der „Sozialdisziplinierung“, also der juristischen Strafpraxis, zur „inneren Mission“, zu den Forderungen und Bemühungen nach individueller Verinnerlichung des Gewissens. In den ländlichen Verhältnissen der feudalistischen Gesellschaft mit ihren sich komplex überschneidenden und unübersichtlichen Rechtsverhältnissen wäre ein funktionierendes Gewissen ein schweres Handicap im Überlebenskampf der Bauern.

Diesen Widerspruch sahen die Aufklärer im Grunde selbst schon. Sie forderten daher nicht nur ein festeres Gewissen, sondern auch die dazu passende neue Gesellschaft. Die Ablösung harter körperlicher Strafen durch eine subtilere Formung des Gewissens, die im Großen nicht gelingen konnte, findet im kleineren Bereich der familiären Erziehung eine erfolgreichere Parallele. Zumindest in den normsetzenden Schichten trat die Drohung mit dem Liebesverlust an die Stelle direkter körperlicher Züchtigung. Die Funktionsweise dieser neuen Institution „bürgerliche Familie“, den Zusammenhang der Milderung der Erziehung mit einer gelungenen Gewissensbildung wird abschließend mit einem kurzen Rückgriff auf die psychoanalytische Über-Ich-Theorie beleuchtet.

Das farbenprächtig gemalte und geschickt konturierte Bild der Entwicklung bestätigt einmal mehr die Sicht der historischen Anthropologie, wie sie Elias und andere ausgearbeitet haben. Aber Kittsteiners Interesse geht über die anthropologische Dimension hinaus. Das zeigt schon der Titel eines separat erschienenen kleines Bandes, in dem er einige ältere Aufsätze, die ausgewählte Probleme zur Genese des Gewissens etwas weiter vertiefen, veröffentlicht hat: Gewissen und Geschichte.

Diese Verbindung kommt nicht von ungefähr. Kittsteiners letzte größere Arbeit, Naturabsicht und Unsichtbare Hand, beschäftigt sich mit den Wurzeln und der Hybris der klassischen deutschen Geschichtsphilosophie. Da die Erfahrung des 18. Jahrhunderts mit seiner Geschichte den erhofften Fortschritt nicht hinreichend in Aussicht stellte, nahm man Zuflucht zu einer teleologischen Konstruktion in moralphilosophischer Absicht: Was sein soll, wird sein müssen. Hierin findet auch das Gewissen seinen Platz, das nun nicht länger auf Gott, sondern auf eine zu verwirklichende, ideale Gesellschaft, damit letztlich auf die Geschichte vereidigt wird.

Die Geschichte des Gewissens mündet also (zumindest zwischenzeitlich) in ein selbst auf die Geschichte verpflichtetes Gewissen — ein Unternehmen, das mehr als einmal und mehr als einmal mit katastrophalen Folgen gescheitert ist. Die Bemühungen um eine Geschichte des Gewissens gehören für Kittsteiner daher nicht in den bunten Reigen kulturgeschichtlicher Folklore, sondern stehen im Zusammenhang eines mit langem Atem betriebenen Projekts, das zum Ziel hat, die Funktionsmechanismen dieses Scheiterns aufzuspüren. Kittsteiner plädiert dafür, „mißlungene Experimente nicht zwanghaft zu wiederholen“, das Gewissen nicht erneut an einen utopischen Endzweck der Geschichte binden zu wollen. Zaghaft schlägt er statt dessen — hoffnungsasketisch — die „Liebe zur Welt“ als Kandidaten für die Gewissensorientierung vor. Damit steht sein neues Buch in gewisser Hinsicht im Kontext eines Unternehmens, das Peter Furth einmal unter den Titel einer Phänomenologie der Enttäuschungen gebracht hat, eine Aufgabe, die nicht nur die Zeitgenossen von 1968 umtreibt, sondern wohl ebenso die von 1989 beschäftigen wird. Ob man allerdings der Geschichtsphilosophie mit dieser müden Vanitas-Gebärde wirklich beikommen kann, daran wird man seinen Zweifel haben dürfen.

Heinz D. Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens. Insel Verlag, Frankfurt/M. und Leipzig 1991, 544 S., 78 DM.

Heinz D. Kittsteiner: Gewissen und Geschichte. Manutius, Heidelberg 1990, 204 S., 38 DM

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